Hebamme von Sylt

den Himmel, sah einer Möwe nach, verfolgte den Zug einer Wolke, dann meinte sie: »Die Comtesse ist nun im heiratsfähigen Alter. Haben ihre Eltern schon einen Ehemann für sie ausgesucht?«
    Marinus nickte. »Katerina hat einen jungen Fürsten ins Auge gefasst. Einen Verwandten der rumänischen Königin. Deswegen hat sie Arndt losgeschickt, um die Königin zu empfangen, als sie auf Sylt ankam. So wurde er in die Villa Roth gebeten, und es wird sicherlich weitere Einladungen geben. Wie ich hörte, hat Königin Elisabeth bereits signalisiert, dass einer Verbindungdes Hauses Zederlitz mit den Nassau-Weilburgern nichts im Wege steht. Für Elisa wäre das eine gut Partie.«
    »Und wenn sie einen anderen liebt?«
    Marinus lachte. »Wen sollte sie lieben? Auf dem Gut gibt es keine passenden jungen Männer und auf Sylt auch nicht. Außerdem geht es nicht um Liebe, wenn man die Comtesse von Zederlitz ist.« Er zog Geesche fest an seine Seite. »Uns geht es besser. Wir können aus Liebe heiraten.«
    Geesche dachte an das, was sie in den Dünen gesehen hatte. Ob sie Marinus davon erzählen konnte, dass die Comtesse den armen Fischerjungen Ebbo liebte? Dass die beiden ein gefährliches Spiel begonnen hatten, bei dem Hanna sie unterstützte? Es war ein Spiel, das alle verlieren würden. Wenn sie bloß wüsste, wie sie es verhindern konnte, ohne dass jemand dabei zu Schaden kam!
     
    Dr. Nissen war sehr zufrieden. Mit geradezu akrobatischer Leichtigkeit ließ er seinen Stock in der rechten Hand kreisen. Seine Wünsche schienen sich ganz von selbst zu erfüllen, die Pläne, mit denen er nach Sylt gekommen war, würden sich leichter in die Tat umsetzen lassen, als er angenommen hatte. Der Besuch bei der Gräfin von Zederlitz ließ hoffen, dass er von nun an Sommer für Sommer ihr Leibarzt werden konnte, und dass er dem Grafen bei der Ankunft der Königin nicht von der Seite gewichen war, hatte sich als sehr klug erwiesen. Er würde zur Stelle sein, wenn sie von einem Fieberanfall gequält oder jemand aus ihrem Gefolge krank wurde. Damit war der Anfang gemacht! Man kannte ihn! Die adeligen und reichen Kurgäste würden beruhigt nach Sylt kommen können, weil es auf der Insel einen fähigen Arzt gab. Auch Dr. Pollacsek hatte er auf seiner Seite! Und die Familie seiner geschiedenen Frau war weit weg. Er würde nichts mehr mit ihr zu tun haben müssen. Auf einer Insel in der Nordsee hatte er sich von seinem alten Leben fast so weit entfernt, als wäre er nach Amerika ausgewandert.
    Blieb nur noch Geesche Jensen, die sein Glück perfekt machen sollte! Ihr Haus war zwar im Vergleich zu seinen bisherigen Wohnverhältnissen primitiv, aber doch komfortabler als die meisten anderen Häuser auf Sylt. Und vor allem war es groß genug, eine Praxis dort einzurichten. Arzt und Hebamme in ein und demselben Haus, das würde sich als nützlich erweisen. In der Klinik seines Schwiegervaters hatten sich in letzter Zeit immer öfter Damen der besseren Gesellschaft eingefunden, die mit Hilfe eines Arztes entbinden wollten, weil sie der oft mangelhaften Ausbildung einer Hebamme nicht trauten. Die Kombination würde sich als ideal erweisen.
    Dr. Nissen blieb stehen und blickte sich um, als wollte er sein neues Leben in Augenschein nehmen. Mit dem Spätnachmittag hatte sich Ruhe über die Insel gesenkt. Der Wind war eingeschlafen, das Licht des Tages wurde weicher und färbte sich allmählich rot, die Konturen der Dünen begannen sich aufzulösen. Wenn auf Sylt ein Tag zur Neige ging, wurde der Abendfrieden noch kostbarer als auf dem Festland, weil alle Tage auf der Insel rauer, stürmischer, kälter und ungewisser waren, als er sie in Hamburg je erlebt hatte. Umso ermutigender war das Ende eines jeden Tages, gleichgültig, ob eine ruhige Nacht erwartet wurde oder mit einem Sturm gerechnet werden musste. Immer war der Abend auf Sylt nicht nur das Ende eines Tages, sondern vor allem der Beginn der Nacht, aus der ein neuer Tag hervorging, der das Leben auf Sylt verändern würde. Auf dieser Insel war alles ungewiss. Und Dr. Nissen glaubte in diesem Augenblick, dass Sylt gerade deswegen genau richtig für ihn war.
    Er betrachtete das Bild, das sich ihm bot, so lange, bis er glaubte, dass das, was er sah, ein guter Grund war, auf Sylt zu bleiben, dann wandte er sich zurück und ging weiter. Ein gutaussehender Mann, ein Mann, der es zu etwas gebracht hatte, der wusste, was er wollte und dass er es erreichen würde. Dr. Nissen begann in diesem Augenblick die