Hebamme von Sylt
Insel zu lieben. Erspürte, dass sie seine Heimat werden konnte, dass er hier sein Leben beenden würde. Vorausgesetzt, er konnte Geesche Jensen für sich gewinnen …
Die schwankende Gestalt, die vor ihm auf dem Weg erschien, bewog ihn, seinen Schritt zu beschleunigen, obwohl es nicht nötig gewesen wäre, denn die humpelnde Hanna einzuholen, war leicht. In Dr. Nissen regte sich Mitleid, als er sich ihr näherte, und er bedauerte, dass er dieses Mitleid vergessen hatte über der Antipathie, die er bisher für sie empfunden hatte. Plötzlich glaubte er auch zu wissen, warum Geesche Jensen sich auf Hanna Boyken einließ, obwohl sie das Mädchen genauso wenig mochte wie alle anderen. Zugeben würde sie es niemals, aber die Animosität war ihrem Gesicht abzulesen. Und auch Hanna wusste, dass Geesche sie nicht aus Sympathie zu sich ließ, sondern weil sie sich ihrer Mutter verpflichtet fühlte.
Hanna sah sich nicht um, obwohl sie seine Schritte hören musste, und veränderte ihr Tempo nicht. Sie sah erst auf, als Dr. Nissen neben ihr angekommen war und sie ansprach.
Auf seine Frage, ob der Weg vom Haus des Grafen zum Haus ihrer Mutter weit sei, antwortete sie: »Ich will nicht nach Hause, ich gehe zu Geesche.«
»Dann können wir ja ein Stück zusammen gehen.« Er passte sich ihrem Tempo an und stellte bestürzt fest, wie langsam es war. Als er ihr einen Blick zuwarf, bemerkte er das weiße Band, das sie sich ins Haar geflochten hatte. Geradezu grotesk machte es sich aus in ihren dünnen Strähnen, aus denen es sich bereits an einigen Stellen löste, und das strahlende Weiß passte weder zu ihrer Kleidung noch zu ihr selbst.
Hanna bemerkte seinen Blick und griff sich in die Haare. »Das hat mir die Comtesse geschenkt.«
Dr. Nissen antwortete nicht darauf, er warf ihr nur einen misstrauischen Blick zu. Elisa von Zederlitz sollte Hanna ein solches Geschenk gemacht haben? Er vermutete eher, dass Hanna dieses Band gestohlen hatte. Aber er war klug genug,dazu zu schweigen, sondern fragte: »Willst du Frau Jensen bei der Hausarbeit helfen?«
»Mal sehen.«
»Braucht deine Mutter nicht auch deine Hilfe? Sie hat es nicht leicht.«
»Sie hat ja noch Ebbo.«
»Dein Bruder? Kann er für euch sorgen?«
»Er ist Fischer«, antwortete Hanna ausweichend.
»Aber er hat kein eigenes Boot?«, mutmaßte Dr. Nissen.
»Das Boot meines Vaters liegt auf dem Grund des Meeres.«
»Er muss also darauf warten, dass ein anderer Fischer Hilfe braucht?«
Hanna antwortete nicht. Dr. Nissen merkte, dass er vorsichtig sein musste. Hanna war schlau. Dass dieses Gespräch keine freundliche Konversation war, hatte sie längst erkannt. Und wenn ihr klar wurde, wie dringend er ihre Unterstützung brauchte, würde er das Nachsehen haben. Er musste darauf achten, dass seine Bitte daherkam wie das freundliche Angebot eines vermögenden Mannes an ein armes Mädchen, das er unterstützen wollte. »Das Leben eines Fischers«, sagte er vorsichtig, »ist schon hart genug mit einem eigenen Boot. Als Tagelöhner ist es noch viel schwerer.«
Sie kamen an einer Schafweide vorbei, auf der sich ein Schwarm Möwen um etwas stritt, was nicht zu erkennen war. Dr. Nissen schaute eine Weile zu, dann sagte er, ohne den Blick von den Möwen zu nehmen: »Du kennst Marinus Rodenberg?«
Hanna antwortete auch diesmal nicht, und Dr. Nissen wollte sich ihr nicht zuwenden, um zu sehen, ob sie nickte. Aber da er wusste, dass ihr der Halbbruder des Grafen bekannt war, fuhr er fort: »Glaubst du, dass er Frau Jensen heiraten will?«
An diesem Thema schien Hanna interessiert zu sein. »Er ist ihretwegen nach Sylt zurückgekommen«, sagte sie. »Und seinetwegen hat sie den Samowar aus dem Pesel geholt.«
Seine Hoffnungen sanken. »Du glaubst also, dass er sie heiraten will?«
»Ich weiß es.«
»Und sie? Will sie auch?«
Die Antwort kam so schnell, dass Dr. Nissen beinahe gelächelt hätte: »Sie sagt, sie sei nicht gut genug für den Sohn eines Grafen. Aber er wird sie sicherlich überzeugen.«
Dr. Nissen begriff. »Sie haben also im letzten Sommer schon darüber gesprochen? Und du hast sie belauscht?«
In Hannas Gesicht war kein Schuldbewusstsein zu erkennen. »Ich bin öfter bei Geesche.«
»Auch dann, wenn sie dich nicht braucht?«
»Bei ihr ist es schöner als in unserer Kate.«
»Und sie erlaubt dir, bei ihr ein- und auszugehen?«
»Ich bin in ihrem Haus geboren.«
Dazu sagte Dr. Nissen nichts. Aber er nahm sich heimlich vor, dass es mit Hannas Anwesenheit
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