Hebamme von Sylt
dem wohlerzogenen Töchterchen eines gutsituierten Geschäftsmannes einverstanden gewesen. Alles wäre besser als dieses verkrüppelte Kind einer armen Witwe. Für Arndts Sentimentalität hatte sie kein Verständnis. Die Tatsache, dass Hanna in derselben Nacht und im selben Haus wie Elisa zur Welt gekommen war, hatte in Katerina kein Gefühl der Verbundenheit entstehen lassen. So wie das bei Graf Arndt der Fall war.
Und auch bei Marinus! Ja, in diesem Augenblick merkte er, wie groß sein Mitleid war, wie sehr er sich um Hanna sorgte, dass er Angst hatte, sie würde zu spät mit den Sonnenschirmen zurückkommen, Katerina würde diese Gelegenheit beim Schopfe packen … und Hanna hatte dann ihre große Chance vertan, ein einziges Mal in ihrem Leben mehr zu haben als andere.
Er überlegte, ob er Hanna warnen, ob er sie mit einem Handzeichen darauf aufmerksam machen sollte, dass es besser war, zurückzugehen und die Sonnenschirme abzuliefern. Aber da sie nicht zu ihm blickte, sondern nur Augen für die Königin hatte, schob er den Gedanken schnell wieder beiseite. Was ging ihn Hanna Boyken an? Sie musste selber sehen, wie sie mit seiner Schwägerin klarkam. Wenn sie sich erlaubte, ihre Neugier über ihre Pflichten zu setzen, dann hatte sie es nicht besser verdient, wenn sie die Anstellung als Gesellschafterin verlor. Mit Mitleid war Hanna nicht gedient. Wenn sie auch ein schweres Schicksal hatte, sie würde es nicht meistern, wenn man ihr nichts abverlangte.
Dass sein Bruder ihm entgegenkam, bemerkte Marinus erst,als er nur noch wenige Meter von ihm entfernt war. Arndt begrüßte ihn nicht, sondern fragte ohne Umschweife: »Glaubst du auch, dass das die Königin ist? Du hast sie doch bei ihrer Ankunft gesehen. Hast du sie wiedererkannt?«
Marinus nickte. »Ohne Zweifel! Die Kinder scheinen einen Narren an ihr gefressen zu haben. Ich glaube, die haben noch nie ein Gedicht gehört.« Er lachte amüsiert. »Sie verstehen nicht, was die Königin ihnen vorliest, aber es gefällt ihnen.«
Arndts Interesse war mit einem Mal abgelenkt. Er sah nicht mehr zu der Königin hin und auch nicht seinen Bruder an. Sein Blick wanderte in die Dünen, er stutzte, kniff die Augen zusammen, sah genauer hin. Marinus konnte sich denken, worauf er aufmerksam geworden war.
»Wahrscheinlich gefällt ihnen am meisten«, sagte Arndt nachdenklich, ohne den Blick von den Dünen abzuwenden, »dass sich jemand mit ihnen befasst. Das sind diese Kinder nicht gewöhnt. Ihre Eltern haben zu viel zu tun, um ihren Kindern Zeit zu schenken.«
Langsam gingen sie auf die Strandkörbe zu, die für die Familie von Zederlitz zusammengerückt worden waren. Vor einem stand immer noch Katerina in der prallen Sonne, beschirmte ihr Gesicht mit den Händen und beobachtete Königin Elisabeth inmitten ihrer kindlichen Zuhörerschaft. Marinus schaute seinen Bruder verstohlen an, der immer wieder besorgt zu den Dünen blickte.
Owena Radkes Stimme tönte gegen die Brandung an: »Hanna! Wo bleibst du? Die Frau Gräfin hat lange genug auf ihren Sonnenschirm gewartet! Hanna!«
Marinus sah nun, dass Hanna sich hastig erhob und die Sonnenschirme an sich raffte, die sie achtlos zu Boden geworfen hatte, während sie die Königin beobachtete. Der Sand spritzte bei jedem Schritt auf, während sie so schnell sie konnte durch den Dünensand schwankte, er stiebte bis zu den Haaren, wenn ihr Bein sich tief in die verformte Hüfte bohrte, und wenn siesich bei jedem zweiten Schritt aufrichtete, war eine solche Kraftanstrengung nötig, dass der Auftrieb ihres Körpers den Sand in die Sonnenschirme schleuderte, deren Öffnungen sie nach unten hielt.
»Hanna! Wo bleibst du?« Owena Radkes Stimme war mittlerweile angsterfüllt. Anscheinend hatte sie schon einiges von Katerina zu hören bekommen, weil sie nicht selbst zur Kutsche gegangen war, um die Sonnenschirme zu holen. Wenn Katerina morgen auch nur die kleinste Unregelmäßigkeit an ihrem Teint entdeckte, würde Owenas Arbeit für die gräfliche Familie wohl ein Ende haben.
Marinus verspürte denselben Wunsch wie sein Bruder, der so tat, als hörte er die Stimme der Haushälterin nicht und sähe auch nicht die Sandwolken, die unter Hannas verzweifeltem Humpeln entstanden. Er wollte sich genauso wie Arndt von dem Geschehen distanzieren und allen anderen weismachen, er hätte nichts von Hannas Verfehlung bemerkt.
»Was ich dich noch fragen wollte, Arndt«, begann er, und Marinus fiel auf, wie gern sich sein Bruder durch ein
Weitere Kostenlose Bücher