Hebamme von Sylt
Einzige unbekümmert mit dem Erscheinen der Königin am Westerlander Strand umzugehen. Sie kam neugierig ein paar Schritte näher und hätte sich vermutlich noch weiter vorgewagt, wenn ihre Mutter sie nicht zurückgerufen hätte. Zwar konnte MarinusKaterinas Stimme nicht hören, aber ihre Gestik war ausdrucksstark genug.
Marinus näherte sich der Königin behutsam und nahm sich vor, nicht erkennen zu lassen, dass er wusste, wen er vor sich hatte. Zum Glück wurde sie nicht auf ihn aufmerksam, so dass er unbeobachtet stehen blieb und ihrer Stimme lauschen konnte.
»Weine nicht, weil dich die Götter gesendet / weil sich mein Schicksal, mein Leben vollendet. / Was man besingen kann, durfte ich sagen / was man ertragen kann, hab ich getragen. / Danke den Göttern: Ich habe geendet!«
Marinus hätte sich am liebsten dem Meer zugewandt, weil die Poesie der Königin ihn derart berührte, dass sein Auge etwas haben wollte, was sein Herz gleichermaßen bewegte. Dass er den Worten Carmen Sylvas lauschte, dessen war Marinus sicher. Seine Schwägerin hatte ihm ausführlich berichtet, dass Königin Elisabeth unter diesem Künstlernamen Literatur schuf, die überall große Anerkennung fand, auch dort, wo niemand wusste, dass sich hinter dem Namen Carmen Sylva die Königin von Rumänien verbarg.
Aber Marinus musste dem Meer weiterhin den Rücken zukehren, konnte den Blick nicht von der Königin nehmen, weil es schwierig gewesen wäre, ihre Worte zu verstehen, wenn er ihr Gesicht und die Bewegungen ihrer Lippen nicht sah.
»Weine nicht! Staub ist das Leben und Kleinheit / Lass mich vergeh’n in der ewigen Einheit / alles, was mein war, das hat mich verlassen / lass mich das Ganze im Fluge erfassen / dass ich es schaue in leuchtender Einheit!«
Marinus war derart fasziniert, dass er die Königin nun unverhohlen anstarrte. Als sie aufsah, ihr Blick auf ihn fiel und sie ihn mit einem kleinen Lächeln bedachte, zuckte er zusammen und kam sich vor wie ein unerwünschter Eindringling. Schuldbewusst wollte er weitergehen und blickte in die Dünen, um der Königin weiszumachen, sein Blick sei nur zufällig auf siegefallen und als habe er nichts von dem erfasst, was sie tat. Auf keinen Fall wollte er, dass sie ihn für indiskret hielt oder gar befürchten musste, er würde ihr zu nahe treten.
»Lies weiter«, hörte er einen Jungen rufen, der anscheinend keine Ahnung hatte, dass er mit einer Königin sprach.
Ebenso wie das kleine Mädchen neben ihm: »Das sind so schöne Wörter. So schöne habe ich noch nie gehört.«
Die Königin lächelte die Kinder freundlich an, dann warf sie Marinus ein Blick zu, der ihm wie eine Warnung vorkam. Anscheinend sollte er sie nicht verraten. Sie hatte gemerkt, dass er sie erkannt hatte, wollte sich aber den Kindern anscheinend nicht offenbaren.
Wieder gab Marinus sich Mühe, mit Gleichgültigkeit zu reagieren. Während er langsam weiterging, sah er nicht die Königin an, sondern in die Dünen, als gäbe es dort etwas, was sein Interesse erregte.
Und im nächsten Augenblick war es tatsächlich so! Durch die Dünen bewegte sich jemand, der der Königin so nah wie möglich kommen wollte. Hanna! Sie trug zwei Sonnenschirme unter dem Arm, warf sie nun in den Sand und hockte sich ins Dünengras. Wahrscheinlich hatte Katerina sie nach den Sonnenschirmen geschickt, die zunächst in der Kutsche geblieben waren, weil die Sonne bis jetzt hinter einem Dunstschleier verborgen geblieben war. Und nun hatte Katerina den Schutz des Strandkorbs aufgegeben und brauchte ihren Sonnenschirm, den sie vermutlich auch Elisa aufnötigen wollte, die sich stets gegen solche Requisiten wehrte.
Kopfschüttelnd betrachtete er Hanna, die nur Augen für die Königin hatte. Sie würde Ärger bekommen, wenn sie nicht unverzüglich mit den Sonnenschirmen zurückkehrte. Katerina war ohnehin nicht damit einverstanden, dass Graf Arndt ausgerechnet Hanna Boyken zur Gesellschafterin ihrer Tochter gemacht hatte. Sie würde froh über jeden Grund sein, sich Hannas zu entledigen, wenn auch Elisa mit einer Entscheidunggegen Hanna zweifellos nicht glücklich sein würde. Marinus wusste, mit welch abgöttischer Liebe Katerina an ihrer Tochter hing und wie stolz sie auf Elisa war, aber er wusste auch von ihrer Sorge, dass Elisa das Vornehme und Elegante fehlte, das Snobistische, das Bewusstsein für ihren Stand. Zwar gab es auf Sylt niemanden, der wirklich zu Elisa passte, aber Katerina wäre vermutlich mit einer Kapitänstochter oder mit
Weitere Kostenlose Bücher