Hebamme von Sylt
Familie seines Bruders handelte, die mitsamt ihrer Dienstboten am Strand erschienen waren. Marinus beschleunigte nun seinen Schritt. Er liebte das Strandleben zwar nicht besonders, aber allein in dem großen Haus hinter den Dünen hätte er sich noch unwohler gefühlt. Und auf eine Plauderei mit seiner Schwägerin freute er sich. Katerina war eine interessante Frau, intelligent und gebildet, und dass sie ihn, den illegitimen Spross ihres Schwiegervaters, behandelte wie ihresgleichen, rechnete er ihr hoch an. Wie eine Auszeichnung nahm er diese Wertschätzung entgegen. Katerina war sich ihres Standes sehr bewusst und nannte die Weltoffenheit, mit der sich manche Adelige neuerdings dem niederen Volk zuwandten, Schwäche. Eine solche Schwäche leistete sie sich niemals. Wenn sie zu ihrem Personal freundlich war, schloss sich dennoch nie die Distanz, die sie für eine natürliche Positionierung hielt.Umso bemerkenswerter war die Herzlichkeit, mit der sie Marinus entgegentrat. Es kam sogar vor, dass sie ihn um Rat fragte. Und wenn es um die Probleme mit ihrer Schwiegermutter ging, wandte sie sich eher an Marinus als an ihren Mann, der zwar immer auf ihrer Seite stand, seine Aufgabe jedoch stets im Beschwichtigen sah und eine Auseinandersetzung mit seiner Mutter mied, die für Marinus von vornherein undenkbar gewesen wäre. Wenn es um die alte Gräfin von Zederlitz ging, fühlte Katerina sich dem Halbbruder ihres Mannes anverwandt, genauso akzeptiert und gleichermaßen abgelehnt wie er. Womöglich war es das, was sie verband.
Marinus blieb stehen und sah angestrengt geradeaus. Dass eine flache Welle ihm den Sand unter den Schuhsohlen wegzog, nahm er nicht zur Kenntnis. Diese Gruppe von Menschen, die er aus der Ferne für die von Zederlitz gehalten hatte, war viel größer, als er zunächst angenommen hatte. Nun konnte er auch erkennen, dass sich mindestens zwanzig bis dreißig Menschen dicht zusammendrängten, wie es niemand in der Familie seines Bruders je tun würde, und sich um einen zentralen Punkt scharten. Marinus beschleunigte seinen Schritt. Was war da los?
Je näher er kam, desto deutlicher wurde es, dass es sich um Kinder handelte, die sich um eine erwachsene Person versammelt hatten. Eine Frau! Marinus konnte deutlich ein helles Kleid ausmachen und einen großen Hut, der mit einem Schleier am Kopf befestigt war, damit der Wind ihn nicht davontrug. Anscheinend eine Dame der Gesellschaft, die sich um Sylter Kinder kümmerte und nicht die Nähe der ungewaschenen Gesichter, der ungekämmten Haare und schmutzigen Hosen scheute. Erstaunlich!
Nun sah er, dass auch sein Bruder und Katerina darauf aufmerksam wurden, die sich weiter vorn, in der Nähe des Strandpavillons, niedergelassen hatten. Arndt reckte den Hals und machte ein paar Schritte vom Meer weg auf die seltsameAnsammlung zu. Sogar Katerina erhob sich aus ihrem Strandkorb, obwohl sie keinen Sonnenschirm zur Hand hatte, ohne den sie normalerweise keinen Schritt in die Sonne machte, die mittlerweile hoch am Himmel stand, von keiner Wolke mehr bekränzt. Aber anscheinend war ihre Neugier größer als ihre Sorge um ihren Teint.
Nun fielen Marinus die beiden livrierten Männer auf, die am Fuß der Dünen standen und das Treiben genau beobachteten. Es schien tatsächlich eine hochgestellte Dame zu sein, die sich dort um die Sylter Nachkommenschaft kümmerte. Das erschien Marinus derartig kurios, dass er unwillkürlich stehen blieb, obwohl sich eine derartige Neugier wirklich nicht schickte. Je näher er gekommen war, desto deutlicher war das Befremdliche dieser Versammlung geworden. Die zerlumpten Kinder, die sonst nichts anderes im Sinn hatten, als irgendwelche Streiche auszuhecken oder sich auf mehr oder weniger schamlose Weise ein paar Geldstücke zu verdienen, saßen still und aufmerksam dort, lehnten sich aneinander oder sogar an die Beine der Frau, ohne auf das helle Kleid zu achten. Und das Erstaunliche war, dass es der Königin nichts auszumachen schien.
Marinus blieb der Mund offen stehen. Ja, die Frau, die den Kindern aus einem großen Buch vorlas, war Königin Elisabeth von Rumänien!
Das schien auch Arndt und Katerina von Zederlitz mittlerweile aufgegangen zu sein. Zwar näherten sie sich der Königin nicht, aber Marinus konnte sogar auf die Entfernung erkennen, dass sie sich die Frage stellten, ob sie es tun sollten, wie sie es tun sollten oder ob es ganz und gar unangebracht war, weil die Königin ihr Inkognito wahren wollte. Elisa schien als
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