Hebamme von Sylt
konnten. Ebbo hatte erzählt, dass die Menschen in seiner Nachbarschaft an Erkältungen starben, an Fieber, an einem vereiterten Zahn, an Krankheiten, die nicht auskuriert werden konnten, weil kein Fischer und keine Mutter von mehreren Kindern Zeit dafür hatte und weil auf der Insel sowohl ein Arzt fehlte als auch das Geld, ihn zu bezahlen. Ob die Königin eine Ahnung davonhatte, wie die Leere in solchen Familien aussah? Wenn der Ernährer weggefallen oder den Kindern die Mutter genommen worden war?
Alexander von Nassau-Weilburg griff tröstend nach der Hand der Königin, die er anscheinend behandeln durfte wie eine Mutter, Gräfin Katerina murmelte ein paar mitleidige Worte, während Graf Arndt seinen Stock aufsetzte und ihn so lange zwischen den Knien drehte, bis die Schwermut verflogen war.
Elisa wurde seltsamerweise von der traurigen Erzählung nicht berührt. Ihre Aufmerksamkeit hatte sich, während die Königin mit ihrer leisen, freundlichen Stimme berichtete, ganz auf Alexander von Nassau-Weilburg konzentriert, auf seine Teilnahme für die Königin, auf den Trost, den er ihr spendete. Es gefiel ihr, wie gefühlvoll der junge Mann mit der Frau umging, der er viel zu verdanken hatte, wie sehr er bemüht war, sich dankbar zu erweisen. Aber plötzlich ging ihr auch auf, dass der junge Fürst ebenfalls ein schweres Schicksal zu tragen hatte. Er durfte nicht er selbst sein! Er war dazu verdammt, in den Spiegel der Königin zu sehen und das Leben zu führen, das er dort sah. Vermutlich verlangte sie es nicht von ihm. Aber sie hatte vielleicht nur ein einziges Mal seine Dankbarkeit gelobt, und er hatte geglaubt, einen Weg gefunden zu haben, ihre Zuneigung und Fürsorge zu vergelten. Unter allen Umständen wollte er täglich und stündlich sein Dankgefühl zeigen, weil sie ihm eine Familie gegeben hatte, und so schien aus seiner Erkenntlichkeit ein Lebenszweck geworden zu sein. Elisa war davon überzeugt, dass er mehr Mitleid verdiente als die Königin. Und sie war erleichtert, als deren Gesicht sich wieder mit Lächeln füllte, während sie erzählte, dass sie als junge Frau unbedingt Lehrerin hatte werden wollen. Doch durch eine Einladung des Fürsten von Hohenzollern war ihr Leben verändert worden. Der zweite Sohn von Fürst Anton zu Hohenzollern hatte sie zu seiner Gemahlin auserkoren.
Karl von Hohenzollern war der preußischen Armee beigetretenund in den deutsch-dänischen Kriegen von 1864 zu Ruhm und Ehre gekommen. Zwei Jahre später wurde er durch einstimmigen Willen der Nation auf den rumänischen Fürstenthron berufen, und so wurde aus Prinz Karl von Hohenzollern der regierende Fürst Karl I. von Rumänien.
Das Gesicht der Königin verklärte sich geradezu, als sie von ihrer Hochzeit berichtete. Dass Gräfin Katerina anfing, sich zu langweilen, bemerkte sie nicht, dass Graf Arndt auf das Meer hinaussah, fiel ihr auch nicht auf, ebenso wenig, dass Elisa nur Alexander von Nassau-Weilburg im Auge hatte, der versuchte, jede Regung der Königin im Voraus zu erahnen.
Erst als ihre Stimme zu zittern und ihre Augen feucht zu schimmern begannen, holte sie sich die Aufmerksamkeit zurück. »Fünf Jahr später erschien mein erstes Buch«, sagte sie. »›Rumänische Dichtungen‹!« Ihre Stimme wurde wieder hell und kräftig, der Blick ihrer Augen klar. »Ich habe gerade den Kindern daraus vorgelesen. Seit ich ihnen einmal etwas vorgetragen habe, laufen sie mir ständig hinterher und bitten mich, es wieder und wieder zu tun.« Nun lachte sie leise und schien die kurze Schwermut gänzlich überwunden zu haben. »Die Gräfin Vrancea! Vielleicht hätte ich ihnen meinen Künstlernamen Carmen Sylva nennen sollen?«
Alexander von Nassau-Weilburg lachte im selben Rhythmus wie die Königin und nur wenig lauter als sie, während Katerina durchblicken ließ, dass sie sich mit dem schriftstellerischen Werk der Königin auskannte. Mit der ihr eigenen spielerischen Leichtigkeit erwähnte sie die Gedichte »An meine Heimat« und »Die Ernte«, während Graf Arndt anerkennende Worte für die Kunst der Königin fand, die jedoch ein wenig holprig und unpersönlich klangen.
Elisa ging auf, dass ihre Mutter auf die Begegnung mit der Königin bestens vorbereitet war, indem sie ein langes Gespräch mit Marie Roth geführt hatte, die zwangsläufig gut informiert war. Von ihr wusste Katerina, dass die Königin ihreinziges Kind, eine Tochter, im zarten Alter von nur vier Jahren durch Scharlachfieber verloren hatte, und war dankbar,
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