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Hebamme von Sylt

Hebamme von Sylt

Titel: Hebamme von Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Pauly
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hinzufügen wollen. Leonard Nissen wusste, es gab jetzt nur noch eine Chance für ihn: Hanna Boyken. Zwar konnte er nicht genau sagen warum, aber er vertraute darauf, dass sie es schaffen konnte. Hanna war nicht nur geldgierig, sie war gierig in jeder Beziehung, und sie war ohne jeden Skrupel. Sie würde bereit sein, die Liebe zwischen Geesche Jensen und Marinus Rodenberg zu zerstören, wenn es ihr selbst zum Vorteil gereichte. Ob es ihr gelingen würde, war eine andere Sache, aber den Versuch würde sie machen. Geesches Pflichterfüllung ihr gegenüber erzeugte ja nichts als Verachtung in Hanna.
    Er hielt so lange an dieser Hoffnung fest, bis sie ihm ein wenigSelbstvertrauen gegeben hatte. Aber als er sich dann erhob, fühlte er sich nicht viel zuversichtlicher als vorher. Besser, er behandelte Hannas Hilfe als eine von mehreren Optionen. Sich darauf zu verlassen war wohl doch leichtsinnig.
    Er musste handeln! Der Konkurrenz von Marinus Rodenberg fühlte er sich nicht gewachsen, aber über einen Umweg würde er vielleicht doch zum Ziel kommen. Hanna Boyken war so ein Umweg, aber von denen gab es mehrere. Und es war immer gut, sich nicht auf eine einzige mögliche Lösung zu verlassen.
    Nachdenklich ging er ins Haus zurück, lauschte auf die Geräusche, die aus der Küche drangen, verbot es sich aber hineinzugehen, damit Geesche sich nicht von ihm bedrängt fühlte. Er musste behutsam vorgehen, sehr behutsam.
    Als er von draußen den Ruf eines Fischers hörte, zog er sich eilig in sein Zimmer zurück, um Geesche nicht zu begegnen, die in wenigen Augenblicken aus der Küche treten würde.
    Es pochte an der Tür. »Geesche, komm! Es ist soweit! Jale braucht dich!«
    Schon stand Geesche im Flur, noch bevor Dr. Nissen seine Zimmertür ins Schloss gezogen hatte. »Kann Jale nicht herkommen?«, hörte er sie fragen.
    »Geht nicht«, kam es zurück. »Das schafft sie nicht mehr.«
    Dr. Nissen wartete so lange, bis Geesche das Haus verlassen hatte, dann erst trat er wieder aus seinem Zimmer. Nachdenklich ging er in die Küche, wo es warm und behaglich war und angenehm roch. Einen Gegenstand nach dem anderen nahm er auf, den Geesche kurz vorher in Händen gehalten haben mochte. Den Kessel, den sie wohl gerade mit Wasser füllen, den Feuerhaken, mit dem sie die Glut anheizen wollte, als der Fischer nach ihr rief, den Holzklöppel, der auf Sylt Tintenstocker genannt wurde, vor den Geesche sich vielleicht setzen wollte, um Schnüre oder Borten zu klöppeln. Noch nie war er ganz allein in Geesches Küche gewesen, ohne erwarten zu müssen,dass jeden Augenblick jemand eintrat. Geesche würde so bald nicht zurückkehren, Hanna war bei Graf von Zederlitz beschäftigt, und Freda hatte ihre Arbeit im Haus der Hebamme längst getan. Leonard konnte sicher sein, unbehelligt zu bleiben, während er sich in Geesches Leben einschmiegte. Er konnte vorausfühlen, wie es sein würde, hier zu Hause zu sein, konnte versuchen, den Geruch in den Räumen als seinen eigenen zu erkennen und die Wärme als Teil seines Wohlstands.
    Zögernd öffnete er die hintere Tür der Küche, durch die er noch nie gegangen war, und trat in den winzigen dunklen Flur, der in den Pesel führte. Von dort ging es auch in die Kellerkammer, einen kleinen Raum, der über dem Keller des Hauses lag. Aber der interessierte ihn nicht. Der Pesel zog ihn an, dieser Raum, der sogar auf einen Mann wie ihn Wirkung ausübte. Er sah sich um, als hätte er ihn noch nie gesehen, drehte sich einmal ganz langsam um sich selbst und nahm erst jetzt einige Einzelheiten wahr, die ihm entgangen waren, wenn er sich mit Geesche zusammen hier aufgehalten hatte. Nie war ihm aufgefallen, wie sanft das Licht, das von draußen hereinfiel, in den Wandkacheln schimmerte, und bisher hatte er keinen Blick für den Brautteller von Geesches Mutter gehabt, der als besonderes Schmuckstück an der Wand über einem Tischchen hing. Ein Messingteller, vor den Geesche eine Kerze gestellt hatte, deren Licht sich vor diesem glänzenden Teller wie in einem Spiegel vervielfachen würde.
    Nie hatte Dr. Nissen sich Geesche so nahe gefühlt wie in diesem Moment. Er war sogar versucht, in den Wohnraum zu gehen und Geesches Alkoven zu öffnen, ohne das geringste Schuldgefühl zu verspüren, als er diesen Gedanken fasste. Doch im selben Moment fiel sein Blick auf die Kommode mit dem Samowar. Besonderen Gästen war er vorbehalten, das wusste er. Er, Leonard Nissen, war bisher nie ein besonderer Gast gewesen, nur ein

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