Hebamme von Sylt
wie Katerina.
Ihr Taftkleid rauschte wie eine Frühlingsbö in einem frisch belaubten Baum, als sie sich erhob. Anscheinend war Katerina derart erregt, dass ihr das Stillsitzen schwerfiel. So etwas kam bei ihr selten vor. Sie hielt jede zur Schau getragene Gemütsaufwallung für unschicklich und hatte sogar auf jede ihrer Fehl- und Totgeburten mit Versteinerung reagiert statt mit Trauer und Tränen. Und nun diese deutlich sichtbare Beunruhigung!
»Ich möchte, dass du mit ihm redest«, sagte sie, während sie hin und her ging. »Auf dich hört er vielleicht.«
Marinus erhob sich ebenfalls, verzichtete aber darauf, Katerina zu erklären, dass der Zeitpunkt für ein Gespräch unter Brüdern denkbar ungünstig war. Wie hätte er seiner Schwägerin erklären sollen, dass er sich mit Arndt gestritten hatte? Dass er von ihm sogar beleidigt worden war und dass der Name Hanna Boyken die Brüder entzweit hatte, die bis dahin als unzertrennlich gegolten hatten? Außerdem verstand er nicht, was Katerina von ihm erwartete.
»Worüber sollte ich mit ihm reden?«, fragte er vorsichtig. »Über Hanna Boyken?«
Katerina nickte. »Oder über seine Mutter. Mir ist jetzt erst aufgegangen, dass Arndt eine merkwürdige Affinität zu Frauen hat, die hässlich sind und dazu einen hässlichen Charakter haben.Warum sonst sucht er immer wieder Erklärungen für das hässliche Benehmen seiner Mutter, die ein hässliches Gesicht hat und auch ein hässliches Wesen?«
»Weil sie seine Mutter ist«, gab Marinus verwundert zurück. »Er ist ein guter Sohn. So, wie er ein guter Ehemann und Vater ist. Er würde seiner Mutter niemals die Ehrerbietung verweigern, die jede Mutter verdient.« Und hilflos setzte er hinzu: »Das hat mit Hanna Boyken nichts zu tun.«
»Sie ist genauso hässlich«, fuhr Katerina ihn an. »Ihr Benehmen ist ebenso hässlich, und ihr Charakter ist auch durch und durch hässlich.«
Marinus spürte ein vages Unbehagen während dieser Worte. Merkte Katerina nicht, dass auch ihre Rede hässlich war? Sie war es geworden, weil sie so oft dieses Wort benutzt hatte, dass es sich aus dem Zusammenhang löste und jeden und alles zu treffen schien.
»Ich kann all das Hässliche nicht ertragen«, fuhr Katerina fort. »Und ich verstehe nicht, dass Arndt darüber hinwegsehen kann. Er erkennt das Hässliche an seiner Mutter nicht, und er übersieht es genauso bei Hanna Boyken. Ich will keine Hässlichkeit in meiner Nähe.«
Marinus starrte sie hilflos an. Was sollte er dazu sagen? »Hanna kann nichts für ihr Aussehen«, versuchte er es, »und für ihre Behinderung erst recht nicht.«
»Aber sie kann was für ihr hässliches Benehmen und für ihren hässlichen Charakter. Genau wie meine Schwiegermutter!« Plötzlich schien sie Hanna Boyken vergessen zu haben. Wie so oft, wenn die Rede auf ihre Schwiegermutter kam, hatte dann nichts anderes mehr Platz. »Vielleicht wird sie endlich nicht mehr davon reden, dass der Familie der männliche Nachfolger fehlt, wenn sie hört, wer Elisa hier den Hof macht. Fürst von Nassau-Weilburg wäre eine großartige Partie.«
Erstaunt betrachtete Marinus sie. Wie war es möglich, dass diese ahnenstolze, hochmütige Frau noch immer darauf hoffte,es ihrer Schwiegermutter endlich recht machen zu können? Er bemerkte, dass ihm das Ausmaß der Verletzung, die Katerina beigebracht worden war, erst jetzt bewusst wurde. Dass sie immer wieder als Versagerin aus einem Wochenbett aufstehen und ihrer Schwiegermutter unter die Augen treten musste, hatte ihr anscheinend viel mehr zugesetzt, als Marinus sich bisher hatte vorstellen können.
Katerina trat an eines der Fenster, in dessen Nähe mehrere hohe Kerzenleuchter standen, mit dicken weißen Kerzen darin, die ein gleichmäßiges, ruhiges Licht verströmten. Sie drehte dem Fenster den Rücken zu, und Marinus bewunderte die scharf umrissene Gestalt vor dem schwarzen Nachthimmel. Eine der Kerzen begann plötzlich zu flackern und erlosch kurz darauf mit einem sanften Zischen. Mit der Unruhe, die sie kurz vorher auf Katerinas Gesicht gemalt hatte, war es damit ebenfalls vorbei.
Das war der Moment, in dem er plötzlich begriff. Warum war er nicht vorher darauf gekommen? Ganz einfach war die Erklärung! So einfach, dass sie ihm nicht gekommen war. Katerina hatte recht gehabt, in einem anderen Sinne zwar, ihre Erkenntnis war zur falschen Zeit gekommen und hatte sich in der falschen Zeit verfangen, trotzdem war sie der Wahrheit nähergekommen, als sie selbst ahnte.
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