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Hebamme von Sylt

Hebamme von Sylt

Titel: Hebamme von Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Pauly
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in der Welt wäre er zurückgegangen, um ihn zu holen. Mit großen Schritten, als wäre er sogar froh, von dem Stock und der Pflicht, ihn elegant zu handhaben, befreit zu sein, ging er nach Westerland hinein. Das ungewohnte Tempo, das er angeschlagen hatte, tat ihm gut. Es nahm ihm einen Teil der Wut, und schon nach hundert Metern wusste er, was er zu tun hatte. Das besänftigte ihn. Eine Schlacht verloren zu haben war eine Sache. Eine neue Strategie auszuklügeln und auf anderen Wegen noch einmal gegen das Ziel anzustürmen eine andere. Nein, Dr. Nissen wollte sich noch nicht geschlagen geben.
     
    Dr. Pollacsek stand aufrecht am Fenster und dehnte seinen Oberkörper so weit wie möglich. Das tat ihm gut. Die Rollkuren, zu denen Dr. Nissen ihm geraten hatte, zeigten allmählich Wirkung, und auch der Haferschleim, den er dreimal täglich aß, tat ihm gut. Den Saft der rohen Kartoffeln hatte er zwar angewidert ausgespuckt, aber von dem Tee, den seine Haushälterin ihm aus Kalmuswurzeln gekocht hatte, trank er täglich eine ganze Kanne. Was für ein Glück, dass sich zurzeit ein Arzt auf Sylt aufhielt! Er musste Dr. Nissen unbedingt in dem Plan unterstützen, sich auf der Insel niederzulassen.
    Tief atmete er ein und aus und versuchte sich einzureden, dass die Magenschmerzen kaum noch zu spüren waren. Aber er wusste natürlich, dass er sich etwas vormachte. Andererseits durfte er sich nicht beschweren. Dr. Nissen hatte ihm erklärt, dass eine Gastritis nicht von heute auf morgen zu kurieren sei und dass er Geduld haben müsse. Er konnte also damit zufrieden sein, dass der Druck, der seit langem auf seinem Magen lastete, sich zumindest verringert hatte. Es ging aufwärts!
    Dr. Pollacsek winkte einem Geschäftsinhaber auf der anderen Straßenseite einen Gruß zu, der zu ihm hinaufsah, während er seinen Laden abschloss. Vielleicht hatte Dr. Nissen ja auch recht, dass eine seelische Verstimmung hinter seinen Beschwerdensteckte. In den letzten Tagen hatte er sich sicherer gefühlt. Keine Schritte, die ums Haus schlichen, keine Angst mehr vor einer anonymen Gefahr. Der schwarz gekleidete Mann, den er beobachtet hatte, als Dr. Nissen ihn besuchte, war auch nie wieder in der Nähe seines Hauses aufgetaucht. Und seit er ihn in der Villa Roth gesehen hatte, war die Angst vor diesem unheimlich aussehenden Mann allmählich vergangen. Nach dem ersten Schreck hatte er sich gesagt, dass von einem Mann, der zum Gefolge der rumänischen Königin gehörte, unmöglich eine Gefahr ausgehen konnte. Ein rumänischer Lyriker, hatte Königin Elisabeth gesagt und auch seinen Namen genannt. Aber den hatte Julius Pollacsek sofort wieder vergessen, weil er noch viel zu sehr mit seinem Schreck und seiner Angst befasst gewesen war. Später dann hatte er eine Erklärung gefunden. Menschen, die Gedichte schrieben, waren wohl nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Pollacsek hatte noch nie einen Lyriker kennengelernt, doch seitdem er bei der Königin seinen Antrittsbesuch gemacht hatte, redete er sich ein, dass es für so einen Menschen wahrscheinlich ganz normal war, sich an eine Hausecke zu stellen, das Leben um sich herum zu beobachten oder so lange ein Haus anzustarren, bis ihm dazu ein Reim eingefallen war. Ja, so musste es sein! Je länger er sich mit dieser Möglichkeit befasste, desto wahrscheinlicher kam sie ihm vor. Er selbst war eben durch und durch Techniker. Hätte er sich mehr mit Schöngeistern umgeben, wüsste er vielleicht, wie mit solchen Leuten umzugehen und was von ihnen zu erwarten war. Möglicherweise wäre es dann gar nicht zu seinen Ängsten gekommen.
    Die Dunkelheit senkte sich über die Strandstraße, in einigen Häusern glomm das schwache Licht von Petroleumlampen auf, in anderen begannen Kerzen zu flackern. Dr. Pollacsek ging ins Erdgeschoss, wo seine Angestellten gerade Feierabend machten, und bat den Hausmeister, im Obergeschoss sämtliche Petroleumlampen zu entzünden.
    »Nur oben?«, fragte der Mann, wie er ihn jeden Abend fragte,weil er nicht verstehen konnte, dass Dr. Pollacsek es im Erdgeschoss nach wie vor gern dunkel hatte.
    »Nur oben«, bestätigte Dr. Pollacsek wie jeden Abend, weil er immer noch nicht darauf vertrauen mochte, dass Schluss war mit den schleichenden Schritten unter den Fenstern. Wenn es wieder so weit war, wollte er sich ungesehen im Erdgeschoss bewegen können, um der Bedrohung auf die Spur zu kommen. Selbst wenn sie Hanna Boyken hieß und keine ernste Gefahr darstellte.
    Er hockte sich

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