Hebamme von Sylt
Ja, so musste es sein! Die Erkenntnis brach förmlich über Marinus zusammen, so dass er am liebsten mit den Armen gerudert hätte, um nicht von ihr erschlagen zu werden. Alles passte zusammen! Marinus war ganz sicher, dass er das Geheimnis zwischen Graf Arndt von Zederlitz und Hanna Boyken nun durchschaut hatte! Katerina hatte ihn auf die richtige Spur gebracht. Und wenn er mit seinem Wissen zu Arndt gehen würde, dann sollte der noch einmal wagen, ihn den Bankert eines Dienstmädchens zu nennen …
Als Dr. Nissen das Geräusch vor dem Haus hörte, machte sich prompt Übelkeit in ihm breit. Er fühlte sich wie jemand, derHunger hatte, aber etwas zu essen vorgesetzt bekam, das ihn ekelte.
Er riss die Haustür auf in der unsinnigen Hoffnung, dass Hanna Boyken damit zu erschrecken oder sogar abzuwehren war. Aber das Tohk-tik ihrer Schritte veränderte seinen Rhythmus nicht, und sie blickte nicht einmal auf, während sie auf Geesches Haus zuging, als interessierte sie es nicht, wer ihr öffnete.
Dr. Nissen blieb in der Tür stehen und gab sich Mühe, sie ganz auszufüllen. »Frau Jensen ist nicht zu Hause«, sagte er.
Hanna blieb vor ihm stehen und sah ihn gleichmütig an. »Ich weiß. Sie ist bei Jale.«
Dr. Nissen schaffte es nicht, stehen zu bleiben, er wich zur Seite, als Hanna sich an ihm vorbeidrängte, und folgte ihr in die Küche. »Was machst du hier? Frau Jensen hat nichts davon gesagt, dass du heute Abend noch hier zu tun hast.«
Hanna sah ihn nicht an, während sie im Herdfeuer herumstocherte. »Ich bereite schon mal alles fürs Frühstück vor«, sagte sie. »Dann geht es morgen früh schneller.«
Dr. Nissen glaubte ihr kein Wort. »Ist es Frau Jensen recht, wenn du bei ihr eindringst, ohne dass sie es weiß?«
Aber Hanna zog es nun wieder vor zu schweigen. Und unter dem flinken Blick ihrer kleinen stechenden Augen ließ Dr. Nissen alle Hoffnung fahren. Hanna Boyken zu vertrauen war vergeblich. Sie verachtete ihn, sie hatte sich längst ausgerechnet, dass es ihr zum Nachteil gereichen würde, wenn Dr. Nissen hier der Hausherr sein würde, und deshalb wollte sie lieber auf das Geld verzichten, das er ihr geboten hatte, wenn sie dafür sorgte, dass Geesche den Antrag von Marinus Rodenberg nicht annahm. Stattdessen würde sie sich an seiner Not erfreuen, ihren Spaß daran haben, dass er ihr freundlich und höflich entgegenkommen musste, und dafür sorgen, dass sie weiterhin in diesem Haus ein- und ausgehen konnte, wie es ihr beliebte. Dr. Nissen merkte, dass er drauf und dran war, die Beherrschungzu verlieren. Und als er den Wunsch verspürte, Hanna zu beweisen, dass er auch ohne ihre Hilfe Geesches Herz erobern könne, wurde er noch wütender.
Trotzdem rettete er sich in diese lachhafte Genugtuung, obwohl er hätte wissen müssen, dass Hanna Boyken damit nicht niederzuringen war. »Frau Jensen hat das Marzipan, das ich ihr geschenkt habe, gut geschmeckt«, behauptete er so leichthin, wie es ihm eben möglich war. Hanna sollte sehen, dass er Geesche mit seiner Großzügigkeit beeindruckt hatte, damit dieses verkrüppelte Mädchen endlich seine widerwärtige Überheblichkeit verlor.
Aber als sie den Feuerhaken zur Seite legte und ihm offen ins Gesicht grinste, wurde ihm schlagartig klar, dass er einen Fehler gemacht haben musste. Er wusste nicht welchen, aber er machte sich keine Illusion, dass sein Schuss ins Schwarze getroffen hatte.
»Sie hat nichts davon gegessen«, sagte Hanna, und ihr Grinsen wurde noch breiter.
Beinahe hätte Dr. Nissen ihr entgegengehalten, was er gesehen hatte, da wurde Hannas Grinsen so geringschätzig, dass er wusste, wer ein Marzipanherz gegessen und die Marzipanrosen von den anderen herunter genascht hatte. Und vor allem wurde ihm klar, dass er sich nun vollends in Hanna Boykens Hände begeben hatte. Sie wusste, dass er im Pesel herumgeschnüffelt hatte. So, wie Hanna selbst es gern tat. Hanna wurde es aus unerfindlichen Gründen nachgesehen, ein Feriengast jedoch, der sich in einem fremden Sylter Haus aufhielt, hatte sich damit etwas zuschulden kommen lassen, was unverzeihlich war. Dr. Nissen schämte sich in Grund und Boden.
»Drei Monatsgehälter«, sagte Hanna leise.
Dr. Nissen verstand sofort und nickte. Wortlos verließ er die Küche, blieb ein paar Augenblicke in der Diele stehen, ballte in hilfloser Wut die Fäuste und verließ dann das Haus. Dass er seinen Stock vergessen hatte, bemerkte er erst, als er schon einpaar Schritte gemacht hatte. Aber um nichts
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