Hebamme von Sylt
zahlender Sommergast. Marinus Rodenberg war so ein besonderer Gast! Aber Dr. Nissen wollte dafürsorgen, dass Geesche demnächst auch für ihn den Samowar von der Kommode holen und Hanna anweisen würde, ihn mit heißer Asche zu füllen. Es musste ihm einfach gelingen! Geesche Jensen war seine Hoffnung, seine Zukunft.
Er spürte, wie seine Zuversicht heranwuchs, die ihm die Kraft gab, die obere Lade der Kommode zu öffnen. Dort lag das Marzipan, das er Geesche geschenkt hatte und das sie so beharrlich mied, um ihm zu zeigen, dass sie sich nicht von einem Geschenk verführen ließ. Er hatte ihre Haltung sofort verstanden. Sobald sie das Marzipan probierte, war sie ihm einen Schritt näher gekommen, und wenn es ihr schmeckte und sie nicht anders konnte, als weiter davon zu essen, hatte sie ihn noch näher an sich herangelassen. Das wollte sie ihm sagen, als sie das Marzipan in diese Lade legte, ohne es probiert zu haben.
Vorsichtig zog er die Lade auf, so leise, als gäbe es jemanden, der das verräterische Geräusch hören könnte. Dann ging ein Lächeln über sein Gesicht. Eins der Marzipanherzen fehlte, und an den anderen gab es keine Rosenverzierungen mehr. Dr. Nissen fühlte sich plötzlich viel besser. Genauso leise, wie er sie geöffnet hatte, schloss er die Lade wieder. Geesche Jensen hatte von seinem Marzipan genascht! Ein erster Schritt, den sie auf ihn zugegangen war. Selbst wenn sie nicht ahnte, dass er nun von dieser Annäherung wusste.
Als dürfte jeder hören, dass er wie der Herr des Hauses den Wohnraum durchquerte, ging er mit kräftigen Schritten in den Flur zurück. Geesches Alkoven zu öffnen erschien ihm plötzlich kleinlich und philiströs. Und der Gedanke daran beschämte ihn nun.
XI.
Marinus Rodenberg fühlte sich schlecht. Er hatte keinen Blick für das Licht, mit dem die Abenddämmerung zu spielen begann, für die Schatten, die ineinandergriffen, für die Reglosigkeit in der Natur, wenn sie, nachdem der Wind eingeschlafen war, einen guten Tag beschloss und eine ruhige Nacht verkündete.
Dies war kein guter Tag gewesen, und eine ruhige Nacht würde nicht folgen. Marinus hatte in wenigen Augenblicken sein Zuhause verloren, seine Heimat, seine Familie. Er fühlte sich so elend wie nie zuvor. Arndt hätte ihn einen Nichtsnutz, einen Dummkopf oder einen Versager nennen dürfen, das hätte er auf das Erbteil seiner lieblosen Mutter geschoben und über kurz oder lang überwunden. Aber den Bankert eines Dienstmädchens hätte er ihn nicht nennen dürfen. Nicht Arndt! Marinus selbst durfte diese Kränkung im Munde führen; wenn Arndts Mutter sie ausstieß, berührte sie ihn kaum, er hätte sie sogar Katerina verzeihen können. Aber nicht Arndt! Die beiden waren immer Brüder gewesen. Keine Halbbrüder, nicht einer viel und der andere weniger wert. Dieses Vertrauen, das in vielen Jahren gewachsen war, hatte Arndt in wenigen Augenblicken zerstört. Und ob es wieder herzustellen war, konnte Marinus nicht sagen. Arndt würde sich vermutlich entschuldigen und ihn um Verzeihung bitten, aber ob er ihm wirklich vergeben konnte – Marinus wusste es nicht. Zu schwer hatte diese Kränkung ihn verletzt.
Wenn er wenigstens Geesche angetroffen hätte! Ihr gesunder Menschenverstand, ihr Pragmatismus, ihre Schlichtheit und ihre Fähigkeit, aus etwas Kompliziertem etwas Einfaches zu machen, hätte ihm gutgetan. Vielleicht wäre es ihm sogar gelungen, die Kränkung abzustreifen, ehe sie unter seine Haut kriechen konnte. Aber Geesche war nicht zu Hause gewesen. Dr. Nissen, den er vor der Haustür antraf, hatte ihm Auskunftgeben können: Geesche war zu einer Geburt gerufen worden.
Marinus musste also allein bleiben mit seinen Fragen. Warum hatte Arndt ihm das angetan? Weil Marinus gelauscht hatte? Weil Arndt deswegen ärgerlich gewesen war? Marinus blieb abrupt stehen und starrte den Weg entlang, der direkt in die Dünen hineinführte. Oder weil es um Hanna Boyken ging? Arndt schien einen seltsamen Schwur getan zu haben in der Nacht ihrer Geburt. Immer wenn es um Hanna Boyken ging, reagierte er irrational, entweder mit einem Gleichmut, den niemand verstand, oder mit einer Heftigkeit, die noch weniger zu verstehen war.
Marinus überlegte, ob es überhaupt Sinn hatte, nach Hause zurückzukehren. Heimlich korrigierte er: in das Haus meines Halbbruders. Sein Heim konnte er das Haus an den Dünen in diesem Augenblick nicht nennen. Aber wo sollte er hin? Er wollte nicht am Strand herumirren, bis Arndt und Katerina
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