Hebamme von Sylt
»Wann hast du eigentlich gemerkt, dass Hanna deine Tochter ist? Dass vor sechzehn Jahren in derselben Nacht zwei Schwestern geboren wurden?«
»Du irrst dich, Marinus! Glaub mir!« Arndt griff nach den Schultern seines Bruders und sah ihn so eindringlich an, dass es Marinus lieber gewesen wäre, die Dunkelheit hätte das Gesicht seines Bruders verschluckt. »Ich habe Freda Boyken nie angerührt!«
»Du leugnest es? Dann hast du sie auch nie finanziell unterstützt?«
»Warum sollte ich? Ich habe mit dieser Frau nichts zu schaffen.«
Marinus machte sich von Arndts Händen frei. »Das ist das Mindeste, Arndt! Die Frau ist bitterarm. So arm, dass ihr schon ein paar Geldstücke in der Woche helfen könnten. Dazu bist du nicht bereit?«
»Darum geht es nicht …«
»Worum dann? Nur um Hanna? Nur ihr wird geholfen? Ihre Mutter ist dir gleichgültig?«
»Ich habe es dir schon hundertmal erklärt …«
»Dein Schwur, ja. Dein Glück über deine gesunde Tochter. Ja, ja, ja! Wenn es um Hanna geht, lässt du sogar Ungerechtigkeiten zu. Du nimmst in Kauf, dass die Haushälterin für etwas geradesteht, was Hanna zu verantworten hat.«
»Ich habe Owena Radke entschädigt.«
»Das ist dir eine Menge wert! Aber Hannas Mutter bekommt nichts von dir.«
»Ich habe ihr Geld gegeben, als ich hörte, dass ihr Mann auf See geblieben war.«
Marinus bemerkte, dass in der ersten Etage ein Licht aufflackerte. In Katerinas Zimmer war eine Kerze entzündet worden.
Marinus trat so dicht an seinen Bruder heran, dass er flüstern konnte, ohne fürchten zu müssen, der allgegenwärtige Wind könnte seine Worte forttragen. »Oder weiß Freda Boyken gar nicht, wer der Vater ihrer Tochter ist? Hält sie es für möglich, dass Hanna das Kind des Fischers ist? Willst du ihr diese Unsicherheit erhalten, damit sie keine größeren Ansprüche stellt?«
Arndt griff nach Marinus’ Arm und nickte zum Fenster hoch. »Pscht.«
Mit wenigen Schritten zogen sie sich zur Eingangstür zurück, wo es dunkel war und sie von Katerina nicht gesehen werden konnten, deren Silhouette nun am Fenster zu erkennen war.
»Wenn du Katerina diesen Unsinn erzählst«, zischte Graf Arndt, »sind wir geschiedene Leute.«
»Keine Sorge«, gab Marinus zurück. »Warum sollte ich deine Frau für etwas büßen lassen, das du zu verantworten hast? Aber ich verlange Gerechtigkeit für die arme Freda Boyken.«
Plötzlich, von einem Augenblick zum anderen, wurde Graf Arndt so zornig, wie Marinus ihn noch nie gesehen hatte. »Ein letztes Mal: Freda Boyken hat nie in meinem Bett gelegen. Nie! Verstanden? Deswegen gibt es keinen Grund für mich, sie zu unterstützen! Ich kümmere mich um die Tochter, weil ich es diesem armseligen Wesen nach seiner Geburt versprochen habe. Das ist alles!«
»Und die Ähnlichkeit mit deiner Mutter? Durch diese Ähnlichkeit kannst du selbst doch erst darauf gekommen sein, dass Hanna nicht die Tochter des toten Fischers ist!«
»Das bildest du dir ein. Ich sehe keine Ähnlichkeit!«
Graf Arndt öffnete die Eingangstür, ohne sich darum zu scheren, dass das Knarren im ganzen Haus zu hören war. Und er stieg nicht mit Marinus die Treppe hoch, sondern ging schnurstracks ins Wohnzimmer, ohne seinem Bruder eine gute Nacht zu wünschen. Kurz darauf hörte Marinus das Klappern von Flaschen und das leise Zischen, als eine von ihnen geöffnet wurde. Sein Bruder wollte also nicht zu seiner Verpflichtung stehen! Nun begriff Marinus, warum. Wenn Arndt Hannas Mutter Geld gab, gestand er ein, dass Hanna seine Tochter war. Aber das sollte Freda nie mit letzter Sicherheit wissen. Sie kannte Arndts Mutter nicht, sie konnte nicht wissen, wie ähnlich Hanna der alten Gräfin war. Wie oft mochte sie sich schon gefragt haben, ob Hanna das Kind des Fischers oder das des Grafen war! Aber da es keine Beweise gab, hatte sie wohl von vornherein darauf verzichtet, Graf Arndt in die Pflicht zu nehmen. Wahrscheinlich aus Sorge, dass Hanna damit ihre Beschäftigung im Hause von Zederlitz verlor und Freda Boyken noch ärmer war als vorher.
Marinus ging in sein Zimmer, als er hörte, dass Arndt im Wohnzimmer ein Glas füllte. Sein korrekter Bruder, der gernvon seinen Pflichten sprach, der über jeden Zweifel erhaben war, der immer wusste, was zu tun war, und an sich selbst noch höhere Ansprüche stellte als an andere! Dieser Mann war zu feige, zu seiner Verantwortung zu stehen, wenn er Unbequemlichkeiten fürchtete.
Marinus legte sich zu Bett, war aber viel zu
Weitere Kostenlose Bücher