Hebamme von Sylt
aufgewühlt, um Ruhe zu finden. Er war noch nicht eingeschlafen, als er Arndts unsichere Schritte auf der Treppe hörte, er grübelte noch immer über das nach, was er herausgefunden hatte. Ihr gemeinsamer Vater hatte sich auch nicht um seine Verantwortung gekümmert. Nur ihn, Marinus, hatte er anerkannt und gefördert, weil er seine Mutter geliebt hatte. Für keins seiner anderen Kinder hatte er Verantwortung übernommen. Deren Mütter hatten schon froh sein müssen, dass sie die Arbeit auf dem Gut nicht verloren, als sie schwanger geworden waren.
Die Tür zu Arndts Schlafzimmer schnappte leise in Schloss, Marinus drehte sich auf die Seite und versuchte einzuschlafen. Vielleicht war Arndts Ehrenhaftigkeit nur Fassade? Seine Mutter war zwar von Stand gewesen, eine vornehme Dame mit einem beeindruckenden Stammbaum, aber ohne jede Herzensbildung. War es da ein Wunder, dass Arndt gelernt hatte, sich zu nehmen, was er bekommen konnte, und nur dann zu bezahlen, wenn es sich nicht vermeiden ließ? Seine eigene Mutter war zwar nur ein Dienstmädchen gewesen, aber sie hatte ihren Sohn gelehrt, für das, was er getan hatte, geradezustehen. Marinus Rodenberg, der Bankert eines Dienstmädchens, würde seinem Bruder zeigen, wie sich ein Ehrenmann zu verhalten hatte!
Ach, Geesche! Wenn er sich doch jetzt in ihre Arme schmiegen, sich von ihr trösten und Mut machen lassen könnte. Sie würde ihn verstehen! Und sie würde ihm zureden, wenn er ihr sagte, dass er der armen Freda Boyken helfen wollte …
Julius Pollacsek und Leonard Nissen saßen sich gegenüber und versuchten, sich in den Schilderungen ihres Schrecks zu übertreffen.Pollacsek behauptete, sein später Besucher könne froh sein, dass er ihn rechtzeitig erkannt und nicht vorher schon niedergeschlagen habe, Dr. Nissen dagegen versicherte ein ums andere Mal, dass er gerade im Begriff zu klopfen gewesen sei und auf keinen Fall die Absicht gehabt habe, dem Kurdirektor Furcht einzujagen.
Die beiden hatten sich mittlerweile in Pollacseks Büro in der ersten Etage niedergelassen und prosteten sich mit dem Cognac zu, den Pollacsek aus dem Schrank geholt hatte, um auf den Schreck anzustoßen.
»Ich war gekommen, um mich nach Ihrem Gesundheitszustand zu erkundigen«, erklärte Dr. Nissen, »da sah ich diesen Kerl hinter Ihrem Haus verschwinden und bin ihm nachgeschlichen, um zu sehen, was er im Schilde führte.«
»Wie sah er aus?«, fragte Dr. Pollacsek. »Konnten Sie ihn erkennen?«
Dr. Nissen wollte sich nicht festlegen. »Ich kann nur sagen, dass alles an ihm schwarz war. Deswegen habe ich ihn aus den Augen verloren. Irgendwann war er Teil der Nacht geworden, und ich konnte ihn nicht mehr erkennen.«
Dr. Pollacsek stellte aufgeregt den Cognacschwenker weg. »Den kenne ich«, stieß er hervor. »Der schleicht schon seit Tagen in Westerland herum.«
Dr. Nissen beugte sich gespannt vor. »Das habe ich mir bereits erzählen lassen. Wissen Sie, was das für ein Mann ist?«
Pollacsek nickte. »Ein rumänischer Dichter. Der gehört zum Gefolge der Königin.« Er stand auf, ging zum Fenster, blieb dort eine Weile kerzengerade stehen, um seinen Magen zu strecken und den Druck zu verringern, der prompt wieder auf ihm lastete, seit Dr. Nissen von dem schwarzen Mann gesprochen hatte. Pollacsek drehte seinem Besucher so lange den Rücken zu, bis er sich besser fühlte. »Als Sie das letzte Mal bei mir waren … Sie erinnern sich?«
Dr. Nissen nickte. »Wegen Ihrer Gastritis.«
»Da habe ich ihn gesehen. Auf der anderen Straßenseite. Er hat das Haus beobachtet.«
»Während ich bei Ihnen war?« Dr. Nissen sah aus, als könnte er es nicht glauben.
Aber Dr. Pollacsek bestätigte es lebhaft. »Als Sie kamen, stand ich zufällig am Fenster und habe ihn gesehen. Als Sie gingen, wollte ich wissen, ob er immer noch dort stand …«
Sein Gegenüber sah ihn fragend an, und Julius Pollacsek nickte. »Er war noch da.«
Er setzte sich wieder, trank sein Glas leer und goss sich sofort ein weiteres ein.
Dr. Nissen dagegen wehrte ab. »Ich vertrage nicht so viel Alkohol.«
»Ich eigentlich auch nicht.«
»Für Ihre Gastritis ist Alkohol Gift.«
»Ich weiß. Aber wenn ich mich bedroht fühle …« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Dabei ging es mir bereits besser. Als ich den Kerl in der Villa Roth sah, dachte ich, dass er harmlos sein muss. Jemand, der die Königin begleitet, kann nicht gefährlich sein! Und sind Leute, die Gedichte schreiben, nicht allesamt etwas
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