Hebamme von Sylt
Ölgemälde darüber, ohne darauf zu achten, dass es schief über der Tresortür baumelte und jedem Eindringling sofort verraten würde, wo die Beute zu finden war. Doch die Angst machte ihn unvorsichtig, und die Magenschmerzen, die auf ihn zugesprungen waren, schienen ihn zu umklammern, so dass er kaum Luft bekam, geschweige zu einem vernünftigen Gedanken fähig war.
Auf leisen Sohlen verließ er sein Büro und blieb auf dem Treppenabsatz stehen, um zu lauschen. Alles war still! Schon dachte Dr. Pollacsek, dass er einer Täuschung aufgesessen war, da hörte er es wieder, dieses Rascheln im Kies, das sanfte Rütteln an einem der Fensterläden. Die Angst war drauf und dran, ihn zu lähmen, aber er zwang sich, die Treppe herunterzuschleichen. Jede Stufe ein Wagnis, jedes Knacken des Holzes eine Gefahr!
Als er endlich am Fuß der Treppe stand, war er in Schweiß gebadet. In welchen Raum sollte er gehen? Vor welchem Fenster lauerte die Gefahr? Er starrte die geschlossenen Türen an und war plötzlich zu der klaren Frage fähig, warum das Geräusch der Schritte bis in die erste Etage gedrungen war. Fenster und Türen waren verschlossen! Entweder war das Geräusch sehr laut und unbekümmert gewesen, oder es war von einer ganz anderen Stelle zu ihm gedrungen, als er vermutet hatte.
Wieder blieb er stehen und lauschte. Der Abend war noch voller Stimmen und Töne, aber sie alle waren weit entfernt. Julius Pollacsek griff zu dem Treppengeländer, um sich für den nächsten Schritt zu schützen – notfalls mit den Händen aufzufangen, wenn seine Füße versagen wollten.
In diesem Augenblick hörte er es wieder. Den raschelnden Kies, das Klappern eines Fensterladens, der an die Hauswand schlug. Und nun wusste er, warum er diese Geräusche trotz geschlossener Fenster und Türen hören konnte. Sie drangen nicht aus dem Garten zu ihm, sondern kamen aus der Nähe der Eingangstür.
Er starrte sie an. Nur drei Schritte, und er würde dort sein, nach der Klinke greifen und die Tür aufreißen können. Aber was dann? Wer würde ihm gegenüberstehen? Und wie würde derjenige reagieren, wenn er den Kurdirektor vor sich hatte?
Dr. Pollacsek zögerte. Der Abend hatte noch viele Lichter: die Lampen und Kerzen in den Fenstern der Häuser und den Mond, über den eine Wolke hinweggezogen war, der jetzt silberhell über der Insel stand. Unter der Eingangstür gab es einen waagerechten hellen Streifen. Und er wurde in der Sekunde unterbrochen, in der Julius Pollacsek sich entschied, der Gefahr ins Gesicht zu blicken, selbst wenn es das Letzte sein würde, was er zu sehen bekam. Gebannt starrte er die helle Linie an, in der es kaum wahrnehmbar flackerte, ein winziger Schatten, der schnell wieder weghuschte, eine Bewegung, die stillstand, kaum dass er sie wahrgenommen hatte.
Nun war die Angst groß genug, daraus Mut zu machen. Er riss sich von dem Lichtstreifen los, machte zwei, drei Schritte auf die Tür zu, die laut und kräftig waren, und riss sie auf, als wäre er ohne jede Furcht. Als er sah, wer vor der Tür stand, war er unfähig, etwas zu sagen.
XII.
Marinus stand am Fenster seines Zimmers und sah hinaus. Von der Müdigkeit, die ihn bei seiner Heimkehr gequält hatte, spürte er nichts mehr, mit der Niedergeschlagenheit war es vorbei. Er war nun ganz angefüllt mit Zorn und Empörung, kein anderes Gefühl hatte Platz daneben.
Was für ein Glück, dass Katerina der Wahrheit nicht auf die Spur gekommen war! Oder war sie von einer Ahnung befallen worden und hatte es nur nicht über sich gebracht, sie auszusprechen? Marinus war sich nicht sicher. Aber er, Marinus Rodenberg, hatte es mit einem Schlage durchschaut. Dass er noch nicht eher darauf gekommen war! Des Rätsels Lösung lag doch auf der Hand! Er hätte es sehen müssen. Schon im letzten Jahr hätte er erkennen können, welches Geheimnis Hanna Boyken umgab und was sein Halbbruder damit zu tun hatte.
Wie froh war er gewesen, als seine Schwägerin sich vor zwei Stunden endlich schlafen legen wollte, nachdem er mehrmals versprochen hatte, mit Arndt zu reden. Und das würde er tun! Noch in dieser Nacht! Wenn sich Katerina auch nicht vorstellen konnte, worüber sie reden würden. In den nächsten Stunden sollte zum ersten Mal die Wahrheit ausgesprochen werden! Die ganze Wahrheit! Was würde Geesche sagen, wenn sie davon erfuhr? Marinus’ Erregung legte sich für ein paar Augenblicke, weil ihm ein Gedanke kam, der Ruhe in ihm erzeugte. Wenn Geesche ihren Respekt vor der
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