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Hebamme von Sylt

Hebamme von Sylt

Titel: Hebamme von Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Pauly
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gräflichen Familie verlor, dann konnte das für seine Pläne eigentlich nur gut sein.
    Die halbe Nacht war bereits vorbei, als er am Ende des Weges eine Gestalt wahrnahm, die nur langsam näher kam. Arndt? Marinus beugte sich so weit vor, dass seine Stirn die Fensterscheibe berührte. Noch war er nicht sicher, ob die Bewegung in seiner Einbildung entstanden war, ob das Mondlicht mit einem Schatten gespielt oder der Wind etwas vor sich hergetrieben oder hochgewirbelt hatte. Aber da es auf Sylt keine Bäume gab, nichts Mannshohes, was der Wind bewegen konnte, wurde Marinus schnell sicher, dass es Arndt war, der auf das Haus zukam. Trotz der Dunkelheit war er bald einwandfrei zu erkennen. Das Mondlicht war hell genug, der Himmel nicht ganz schwarz in dieser Nacht, die Sturmlampe, die an einem Pfosten des Eingangstores baumelte, schickte ihr Licht weit genug voraus.
    Als Graf Arndt von Zederlitz am Rande des Lichtkegels erschien, sah Marinus, dass er schwankte. Sein Bruder war betrunken? Marinus konnte nicht sagen, wann er Arndt zum letzten Mal alkoholisiert erlebt hatte. Es musste Jahre her sein. Seit er Ehemann und Vater war, hatte er sich nur noch so verhalten, wie es von einem Mann seines Standes erwartet wurde.
    Marinus verließ sein Zimmer und ging so leise wie möglich die Treppe hinab. Vorsichtig drückt er die Klinke der Eingangstür herab, die sich leider nicht unhörbar öffnen ließ. Aber er hoffte darauf, dass niemand im Haus auf das Knarren aufmerksam wurde.
    Arndt erschrak heftig, als Marinus auf ihn zutrat. »Was machst du hier? Warum schläfst du noch nicht?«
    »Weil ich mit dir reden will!«, gab Marinus zurück und verhinderte, dass Arndt weiter auf die Eingangstür zuging.
    Sein Bruder blieb stehen und sah Marinus so verlegen an, als wüsste er, was auf ihn zukam. »Du hast recht«, sagte er, und Marinus stellte fest, dass auch seine Stimme schwankte. »Ich habe mich unmöglich benommen. Was ich heute Nachmittag am Strand gesagt habe, tut mir leid. Bitte, entschuldige.«
    Marinus nickte nur deshalb, weil ihm in den letzten Stunden etwas anderes wichtiger geworden war als die Verletzung, die Arndt ihm zugefügt hatte. In Wirklichkeit wusste er gar nicht, ob er die Entschuldigung überhaupt annehmen wollte, ob er sie annehmen konnte, weil zum Verzeihen immer auch das Vergessen gehörte und ein Neuanfang ohne Schuld. Die Enttäuschung über seinen Bruder hatte sich in den letzten Stunden vervielfacht. Es ging nicht mehr um Kränkung und Beleidigung, es ging nicht einmal um Marinus. Aber es ging um seine Überzeugung, dass sein Bruder ein anständiger Mensch war, ein Ehrenmann, der hohe Ansprüche an sein eigenes Verhalten stellte. Und es ging auch um die Liebe zu seinem Bruder.
    »Darüber will ich nicht mit dir reden«, sagte er, »sondern über Freda Boyken.«
    Arndt sah seinen Bruder an, als fiele ihm gerade auf, dass nicht er selbst, sondern Marinus betrunken war. »Hannas Mutter? Wieso willst du mit mir über diese Frau reden?«
    Marinus nahm seinen Arm und machte mit ihm ein paar Schritte in die Dunkelheit zurück. Zwar ärgerte er sich darüber, dass er nun weder Arndts Gesicht sah noch ihm sein eigenes zeigen konnte, aber er wusste, dass er dieses Gespräch nur durchhalten würde, wenn er seinem Mut so viel Unterstützung gab wie eben möglich. Die Dunkelheit half ihm dabei.
    »Denk an den Sommer vor sechzehn Jahren zurück«, begann er.
    Arndt nickte. »Elisa wurde geboren.«
    »Hanna Boyken auch.«
    Wieder nickte Arndt. »In derselben Nacht und im selben Haus. Meinst du, das könnte ich vergessen?«
    Die Brüder blieben stehen, das Haus und das tanzende Licht der Sturmlaterne im Rücken, die dunkle baumlose Weite vor sich, die viel Platz hatte, bevor sie von den ersten Häusern Westerlands aufgehalten wurde.
    »Ich erinnere mich«, fuhr Marinus fort, »dass du im Winter zuvor auf der Insel warst, um dafür zu sorgen, dass das Haus rechtzeitig fertig wurde.« Er wies mit dem Daumen über seine Schulter, als müsste er verdeutlichen, von welchem Haus er sprach.
    »Stimmt! Katerina hielt es nicht mehr auf dem Gut aus. Meine Mutter ließ sie täglich spüren, dass sie ihre Pflicht nicht erfüllte. Es war schrecklich für Katerina. Sie wurde behandelt, als wäre sie nicht bereit, ein Kind zu bekommen. Ein gesundes Kind! Ein Kind, das überlebte. Am besten einen Sohn, aber mit einer gesunden Tochter hätte sie zumindest ihren guten Willen bewiesen.« Arndts Stimme war immer spöttischer geworden,

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