Hebt die Titanic
vergewissern, daß die Todeswaffe griffbereit vor ihm lag. Es war ein wunderschöner Aprilnachmittag, aber in Seagrams Geist herrschte düstere Novemberstimmung. Vor sich sah er nur die Ruinen einer gescheiterten Ehe und den Mißerfolg des Projekts Sizilien. Der Präsident selbst war das Seagram sinnlos erscheinende Risiko eingegangen, wichtige Einzelheiten des Projekts an die Russen weiterzugeben. Und Sandecker hatte mit der Hiobsbotschaft von der Anwesenheit zweier russischer Spione bei der Bergungsflotte der Titanic Seagrams hochgespannte Hoffnungen ganz und gar auf den Nullpunkt sinken lassen.
Der Tod erschien Seagram in dieser Situation wie eine Erlösung. Sein Blick glitt zum Fenster, aber das Aufblühen der Natur – die knospenden Bäume und das leuchtende Gelb der Forsythienbüsche über dem zart sprießenden Grün des jungen Rasens –, dieser Anblick der Frühlingslandschaft erzeugte in seinem Innern nur ein Gefühl von melancholischer Wehmut.
Vielleicht war es sogar schön, gerade mit dieser Frühlingsszenerie vor Augen zu sterben, dachte er.
Das Schrillen des Telefons riß ihn gewaltsam aus seinen düsteren Grübeleien. Er überlegte ernsthaft, ob er überhaupt noch abheben sollte. War er nicht eigentlich für die Welt schon so gut wie gestorben – nach all seinen Mißerfolgen? Nach dem fünften Läuten raffte er sich doch dazu auf, nach dem Hörer zu greifen und sich zu melden.
»Wie klingt denn deine Stimme?« hörte er Marie Sheldon am anderen Ende der Leitung fragen. »An einem so schönen Nachmittag – und bei so viel Grund zur Freude.«
Seagram stieß ein ganz und gar freudloses Lachen aus. »Manchmal bist du unfreiwillig komisch, Marie«, sagte er mit einem Anflug von Galgenhumor. »Warum sollte gerade ich vor Freude jubilieren und singen?«
Marie schwieg einen Moment und fragte dann erstaunt und etwas belustigt: »Schaltest du eigentlich nie deinen Fernseher an, Gene?«
»Wie kommst du darauf, Marie?« fragte Seagram zurück, und ein seltsames Gefühl von Vorahnung belebte sein verdüstertes Gemüt.
»Du hast nicht die Rede des Präsidenten gehört?«
»Nein.«
»Dann kannst du allerdings auch nicht wissen, daß die Bergung der Titanic geglückt ist.«
»Was sagst du da?« Seagrams Stimme klang ihm selbst unnatürlich fremd und laut. »Die Titanic ist geborgen?«
»Du brauchst nicht so zu schreien, Gene. Es ist eine Tatsache, und der Präsident hat das selbst im Fernsehen verkündet.«
»Sie haben es also doch geschafft«, sagte Seagram – wie im Flüsterton eines heimlichen Gebets. »Danke, Marie, danke –«
»Bei mir brauchst du dich nicht zu bedanken, Gene«, sagte Marie.
»Doch. Gerade dir muß ich danken. Du ahnst gar nicht, wovor du mich eben bewahrt hast –«
Und ohne auf Maries erstaunte Frage zu antworten, hängte Gene Seagram ein.
Das war vielleicht die Rettung, dachte er. Dreißig Tage. Sobald er das Byzanium hatte, brauchte er nur noch dreißig Tage Zeit, um das Projekt Sizilien unter normalen Bedingungen zu testen und dann das ganze System aktionsbereit zu machen.
Das Leben hatte wieder einen Sinn für Gene Seagram. Mit einer nahezu feierlichen Geste griff er nach dem Revolver und verstaute ihn wieder im hintersten Winkel einer Schreibtischschublade unter harmlosen Papieren und allerlei Krimskrams.
50
»Hoffentlich ist Ihnen klar, wie schwerwiegend Ihre Beschuldigungen sind?«
Marganin sah diesen kleinen Mann hinter dem Schreibtisch an, der so sanft sprach und dessen blaue Augen so harmlos blicken konnten. Dabei war Admiral Boris Sloyuk der Chef der zweitgrößten Geheimdienstorganisation der Sowjetunion. »Das ist mir völlig klar, Admiral«, bestätigte Marganin ernst. »Ich gefährde mit dieser Anschuldigung meine Marinekarriere und muß auf eine Gefängnisstrafe gefaßt sein. Aber ich werte meine Verpflichtungen dem Staat gegenüber höher als meinen persönlichen Ehrgeiz.«
»Sehr anständig von Ihnen, Leutnant«, sagte Sloyuk mit ausdruckslosem Gesicht. »Aber können Sie auch beweisen, was Sie da gegen Hauptmann Prevlov vorbringen?«
Marganin nickte. Er hatte seine Unterredung mit dem Admiral unter Umgehung des üblichen Dienstweges sorgfältig vorbereitet. In gespielter Gelassenheit zog er einen Umschlag aus der Tasche und reichte ihn über den Schreibtisch.»Hier sind Buchungsbelege für ein Konto mit der Nummer AZF sieben-sechs-null-neun der Banque de Lausanne in der Schweiz. Sie werden feststellen, Admiral, daß dort regelmäßig große Beträge
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