Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
unsere früheren Leben.«
Es überraschte Hector immer wieder, wie intelligente und gebildete Leute, die sich sonst eigentlich sehr umsichtig informierten, wenn sie sich mit etwas nicht auskannten, bereit waren, auf dem Gebiet der Psychiatrie so ziemlich jeden Quark zu schlucken und auch noch zu verteidigen.
»Die sollte Ihre Freundin vielleicht lieber abbrechen«, meinte Hector.
»Wie bitte?!«, fragte Géraldine entgeistert.
»Die Mode mit den Therapien, bei denen man die Leute dazu brachte, an angebliche Erinnerungen zu glauben, war ja schon schlimm genug – aber das hier, Erinnerungen an frühere Leben, das kommt mir noch viel idiotischer vor!«
Hector hatte ein bisschen zu laut gesprochen und merkte nun, dass alle ihn mit großen Augen anschauten. Er hatte gerade gegen eine Regel verstoßen, die für Gespräche wohlerzogener Leute auf der ganzen Welt gilt – in den Hauptstädten des Westens genauso wie in den entlegensten Dörfern von Papua-Neuguinea: Man sagt dem anderen nicht, dass er dummes Zeug redet, auch wenn man es insgeheim denkt.
Das Erstaunen war entsprechend groß, weil Hector normalerweise: »Ach wirklich?« gesagt und sich dann ein wenig Zeit genommen hätte, um mit freundlichen Worten zu erklären, dass ihm diese Therapie nicht besonders seriös vorkam.
Aber plötzlich wurde ihm klar, dass es ihm schon immer auf die Nerven gegangen war, wie Géraldine sich unberechtigterweise so wahnsinnig attraktiv fand und wie sie den armen Jean-Claude domestiziert hatte – zu allem Überfluss betrog sie ihn auch noch, wie Hector von Clara wusste.
Clara sah natürlich höchst verärgert zu Hector hinüber, und auch der alte François warf ihm einen Blick zu, mit dem er anscheinend sagen wollte: »Ich weiß, dass sie eine Nervensäge ist, aber beruhigen Sie sich, es ist die Sache nicht wert.«
O je, sagte sich Hector und leerte erneut nervös sein Weinglas, was natürlich keine so gute Idee war.
Hector schreitet erneut zur Tat
Um ein guter Gast zu bleiben und Denise und Robert keine Schande zu machen, bemühte sich Hector, den Patzer mit Géraldine wieder ein bisschen auszubügeln, indem er ihr erklärte, er habe schon mit etlichen Patienten gesehen, wie sie viel Zeit und Geld bei unseriösen Therapien verloren, und deshalb habe er ein wenig heftig reagiert. (Er hatte, ohne es zu merken, auch schon zu viel getrunken – nur Clara hatte ganz genau mitgezählt, wie viele Gläser es waren.)
»Aber, beste Géraldine, vielleicht hat Ihre Freundin ja gar keine ernsthaften Probleme? Dann wird so eine Therapie ihr auch nicht weiter schaden.«
»Keine ernsthaften Probleme?! Natürlich hat sie ernsthafte Probleme! … Und überhaupt, gibt es jemanden, der keine hat?«, fügte sie mit einem Zustimmung heischenden Blick in die Runde hinzu.
Robert versuchte das Gespräch wieder in heitere Bahnen zu lenken. »Also ich habe keine, mit mir ist alles in bester Ordnung«, sagte er. »Denise sieht das natürlich anders …«
»Das stimmt«, warf Denise ein. »Robert stellt sich nie infrage.«
Hector dachte, dass Robert bestimmt nicht die Wahrheit sagte, aber wenn man den schwierigen Beruf eines Krebsspezialisten ausübte, war es durchaus von Vorteil, nicht zu viele Seelenbefindlichkeiten zu haben oder sich zumindest mit den deutschen Philosophen gegen sie abzuhärten.
»Mich infrage zu stellen, das ist mir nicht gegeben«, meinte Robert. »So bin ich eben auf die Welt gekommen. Was meinst du dazu, Hector?«
»Du hast wahrscheinlich einfach gute Gene erwischt«, entgegnete Hector im Bemühen, den scherzhaften Ton aufzugreifen.
»Aber mit Genetik lässt sich trotzdem nicht alles erklären!«, hakte Géraldine entrüstet nach.
Hector schaute sie an und sagte sich, dass er mit ihr keine Debatte über das Angeborene und das Erworbene beginnen würde, denn das ginge bestimmt nicht gut aus. Also reichte er sein Glas der philippinischen Haushälterin, die es ihm fast bis zum Rand mit Château Lynch-Bage füllte.
Derweil versuchte auch Clara es mit einem Ablenkungsmanöver: »Wisst ihr, was Hector oft sagt? Ob nun angeboren oder erworben – die Eltern sind immer an allem schuld!«
Alle mussten lächeln, von Géraldine einmal abgesehen.
Und tatsächlich plätscherte die Konversation nun wieder angenehm dahin und widmete sich, während man die Käseplatte herumreichte, den Kindern – jedenfalls denen, die keine Sorgen bereiteten …
Dann aber ging Géraldine unglücklicherweise erneut zum Angriff über und
Weitere Kostenlose Bücher