Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
Mitteilungen einzusammeln, kannte Hector noch andere Sorgen, die heute Abend gut versteckt wurden: Manche Ehen waren nicht so gut, wie man sich den Anschein gab; andere Gäste hatten berufliche Probleme und fuhren nicht mehr in der Spitzengruppe mit oder riskierten sogar, im Straßengraben zu landen. Wieder andere hatten schwierige Kinder, die sich im Leben einfach nicht zurechtfanden oder sogar große Dummheiten anstellten, während ihren Geschwistern fast alles gelang. So auch eine der Töchter von Denise und Robert, die schon mehrere Kollegen von Hector zur Erschöpfung gebracht hatte und noch immer nicht aus dem Schneider war.
Heute Abend aber taten alle so, als wären sie glücklich und unterhaltsam. Solche Abendeinladungen fand Hector normalerweise vergnüglich, aber diesmal, er wusste selbst nicht, warum, diesmal langweilte er sich. War die lange Prozession seiner Patienten an diesem Tag daran schuld? Sabine, die ihre eigene Sterblichkeit gespürt hatte? Tristan, dem klar geworden war, dass seine Karriere in einer Sackgasse steckte? Roger, den man aus Paris vertreiben wollte? Er vermochte es nicht zu sagen, aber auf jeden Fall spürte er an diesem Abend viel deutlicher, dass sein eigenes Leben schon ziemlich weit vorangeschritten war, und auch, dass er sich neuerdings immer häufiger langweilte. Und während er mit seiner abgemagerten Sitznachbarin liebenswürdige Phrasen austauschte, hatte er die ganze Zeit das Gefühl, dass – nein, nicht dass seine Karriere in der Sackgasse steckte, denn von einer Karriere konnte man bei ihm nicht wirklich sprechen, aber dass er den Rest seines Lebens hinter seinem Praxisschreibtisch oder auf Pariser Diners verbringen würde. Doch wer hatte ihn eigentlich gezwungen, sich in ein solches Leben hineinzubegeben? Um sich aufzumuntern, versuchte er über den Tisch hinweg Blicke mit Clara zu tauschen, aber der war offensichtlich kein Schatten über die Seele gehuscht, denn sie unterhielt sich angeregt. Da sagte er sich, dass seine Gedanken Clara beunruhigen, vielleicht sogar unglücklich machen würden. Aber – wäre Clara ohne ihn womöglich sogar glücklicher? Und er ohne sie?
Über diesen verstörenden Gedanken leerte er sein Weinglas, und sofort schwebte die alte philippinische Dame wie ein lautloser Engel herbei und füllte es ihm von Neuem.
Der Gast, mit dem er sich an diesem Abend wirklich gern unterhalten hätte, war ein eleganter älterer Herr in einem leicht altmodischen Anzug und mit Fliege, ein Psychiaterkollege namens François, aber der saß genau am anderen Ende des Tisches. Von Zeit zu Zeit bedachte der alte François Hector mit einem freundschaftlichen Blick, als wollte er ihm sagen: »Ich verstehe Sie ja, aber Sie müssen versuchen, sich mit den reizenden Leuten hier ein wenig zu amüsieren.« Dann wandte er sich Clara zu und brachte sie zum Lachen, denn der alte François hatte schon immer ein Talent dafür gehabt, Frauen zu unterhalten, auch wenn er mittlerweile Witwer war und allein lebte.
Die einzige Person bei diesem Diner, die Hector noch nie besonders angenehm gefunden hatte, war Géraldine, die 42-jährige PR -Chefin eines Unternehmens. Sie war mit dem Antiquitätenhändler Jean-Claude verheiratet, einem eher sympathischen dicken Kerl, der am anderen Ende des Tisches vor sich hindöste. Heute hatte Hector das Pech, dass Géraldine genau zu seiner Linken saß. Er hatte sie schon immer anstrengend gefunden, weil sie alles und jedes besser wusste. (Das hatte ihr wahrscheinlich dabei geholfen, Chefin zu werden – und ihren Mann nach und nach zum Verstummen zu bringen.) Schlimmer noch: Sie neigte dazu, Hector dauernd Fragen über die Medikamente oder Therapien ihrer Freundinnen, die in psychiatrischer Behandlung waren, zu stellen.
Hector drehte sich nach links, um etwas von dem Gericht zu nehmen, das die philippinische Dame ihm gerade lautlos servieren wollte – Kaninchen in Senfsoße. Und schon legte Géraldine los: »Eine meiner Freundinnen hat kürzlich eine Therapie begonnen …«
Nach einem Tag, an dem er einem Patienten nach dem anderen zugehört hatte, sprach Hector sowieso nicht besonders gern über seinen Beruf, und heute, wo er sich ausgesprochen erschöpft fühlte, war ihm noch weniger danach zumute.
»Was ist das denn für eine Therapie?«, fragte er mit der schier übermenschlichen Anstrengung, höflich und liebenswürdig zu sein.
»Ach, das ist wahnsinnig interessant«, meinte Géraldine. »Sie beruht auf den Erinnerungen an
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