Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
sagte Hector, ihrer Meinung nach habe jedermann Probleme, aber die meisten Leute hätten nicht den Mut, ihnen ins Auge zu sehen.
»Das stimmt sicher«, meinte Hector, »aber in manchen Fällen ist es auch besser, wenn man ihnen nicht ins Auge sieht.« Dabei fing er den Blick des alten François auf, der ihm zu sagen schien: »Ach, wechseln Sie doch lieber das Thema!«
Hector hätte das auch gern getan, aber Géraldine ließ nicht locker.
»Man soll es vermeiden, seine Probleme anzupacken?«, fragte sie empört. »Wie können Sie als Therapeut so etwas sagen?«
Hector starrte ihr in die Augen, und Clara sah mit einiger Beunruhigung, dass er bleich geworden war. »Ich sage das, weil es mein Beruf ist, liebe Géraldine, und nicht Ihrer …«
Am Tisch breitete sich erneut Schweigen aus. Der alte François schaute zur Zimmerdecke hoch, und Clara blickte Hector erzürnt an.
»… und ich bin nur allzu gern bereit, liebe Géraldine«, fuhr Hector mit einem Lächeln fort, »mir alles anzuhören, was Sie mir Interessantes über Kommunikationsfragen in einem Unternehmen zu sagen haben.«
Am anderen Ende der Tafel ließ sich Jean-Claude, der Ehemann von Géraldine, kein Wort von dieser Unterhaltung entgehen, und Hector hatte den Eindruck, dass so etwas wie ein Lächeln über sein gewöhnlich trauriges Gesicht huschte.
»Aber wie kann man seine Probleme lösen, wenn man ihnen nicht ins Auge sieht?«, ließ Géraldine nicht locker.
Hector fühlte, wie etwas in ihm aushakte.»Schauen Sie sich doch unsere Freunde an, teure Géraldine! Was machen wir denn heute Abend? Wir sehen unseren Problemen nicht ins Auge! Solange wir hier am Tisch sitzen, wollen wir sie vergessen!«
»Aber das ist doch nur für ein paar Stunden …«
»Nein, nicht nur für ein paar Stunden, es gibt Probleme, an die man besser niemals denkt, und wissen Sie, weshalb?«
Alle blickten Hector beunruhigt an. Géraldine wollte etwas entgegnen, aber Hector schnitt ihr das Wort ab.
»Weil es uns zu sehr leiden ließe, wenn wir diesen Problemen ins Auge schauten. Und, meine Liebe, manchmal würde allein der Versuch, sie zu lösen, alles vielleicht noch schlimmer machen! Also tun wir so, als ob – als ob wir in der Ehe glücklich wären, weil der Gedanke an eine Trennung uns zu sehr erschreckt; als ob wir gesund und munter wären, weil wir nicht daran denken wollen, dass wir mit jeder Sekunde altern und vielleicht schon eine schwere Krankheit in uns tragen; als ob wir uns freuen würden, dass unsere Kinder aus dem Haus sind, denn wie dürften wir es wagen, sie davon abzuhalten? Und natürlich tun wir so, als würden wir unseren Beruf lieben, denn er ernährt uns ja, uns und unsere Familien, und es ist sowieso zu spät, sich einen neuen zu suchen! Also ist es besser, das Gegebene zu akzeptieren, hier und da vielleicht eine Kleinigkeit zu ändern, aber vor allem nicht den Problemen ins Auge zu sehen! Nicht wahr, liebe Géraldine?«
Und dann erhob er sein Glas und sagte: »Auf euch alle, meine lieben Freunde, weil ihr heute Abend mutig, ja geradezu heroisch so tut, als ob! Ich liebe und bewundere euch!« Und schwupps, hatte er sein Glas schon wieder geleert (das siebte, wie Clara gezählt hatte).
Als gelte es, einen Irren zu besänftigen, indem man ihm nicht widerspricht, erhoben daraufhin alle Anwesenden ihre Gläser – wobei sie sie beim Stiel hielten, denn es war schließlich ein vornehmes Diner – und tranken ein paar Schlucke, was augenblicklich dazu führte, dass die philippinische Dame mit der nächsten in eine Stoffserviette gehüllten Flasche erschien.
Wie ein Auto, das der Fahrer nach einem Schleudermanöver wieder in den Griff bekommen hat, nahm das Abendessen daraufhin wieder seinen reizenden, höflichen und sogar unbeschwerten Verlauf, außer dass Géraldine ein Gesicht zog, Clara die Stirn runzelte, sobald die philippinische Dame in Hectors Nähe auftauchte, und der alte François mit betrübter Miene zu ihm hinüberschaute, bis das Dessert aufgetragen wurde – ein Birnen-Aprikosen-Crumble, das alle in gute Laune versetzte, nur Géraldine nicht.
Hector auf dem Balkon
Später dann fanden sich alle im Wohnzimmer wieder, wo man noch mehr Alkohol für die Trinker servierte und frisch gepressten Fruchtsaft oder Kräutertee für alle, die noch mitbekamen, dass sie zu tief ins Glas geschaut hatten.
Hector sah, dass der alte François auf den großen Balkon hinausgetreten war, und so beschloss er, ihm dorthin zu folgen, denn er war ein
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