Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
anzuvertrauen, aber als er den Kopf hob, musste er feststellen, dass er sich in seinem Sprechzimmer noch immer ein wenig eingesperrt fühlte. Künftig sollte er zum Schreiben vielleicht lieber ins Café gegenüber gehen, wenn er eine Atempause hatte.
Das wäre zwar nicht gleich ein neues Leben, aber eine kleine Verbesserung von der Sorte, wie er sie seinen Patienten empfahl, wenn er nichts anderes für sie tun konnte.
Der Nächste bitte!
Léon, der große Küchenchef, will ein neues Leben anfangen
»Doktor, ich spüre, dass es mir jetzt viel besser geht. Es ist ein ganz neues Leben …«
Hector freute sich, denn nach vier Patienten, die ihm Sorgen machten, war es wohltuend, einen zu sehen, der sich besser fühlte.
Es war Léon, ein Chefkoch, der dafür bekannt war, dass er die französische Küche mit den Aromen des Orients verfeinerte. Seinem runden und fröhlichen Gesicht begegnete man in Reisemagazinen, aber Hector hatte ihn wegen einer schweren Depression behandelt. Doch inzwischen war Léon wieder viel besser in Form. Er hatte kürzlich beim Sternerestaurant eines Luxushotels gekündigt, um unter seinem eigenen Namen in einer netten kleinen Straße ein Lokal aufzumachen.
Solche Veränderungen im Leben waren es, zu denen Hector seine Patienten ermunterte! Auf Begabungen zu setzen, die man ohnehin schon hatte, und einen anderen Ort zu finden, an dem man sie besser entfalten konnte – genau wie es Léon in seinem neuen Restaurant machen würde.
Hector war ein vernünftiger Mann (jedenfalls solange er am Schreibtisch saß), und er versuchte seine Patienten durch gute Fragen auf einen Weg zu führen, der auch für sie vernünftig war, statt sie zu Bungeesprüngen zu ermuntern, ohne sich sicher zu sein, ob das Seil auch hielt.
Und so freute sich Hector, diesem großen Chefkoch geholfen zu haben, eine vernünftige Lösung zu finden – eine viel bessere als alle, die er zuvor ins Auge gefasst hatte. Denn auch wenn Léon es mittlerweile verdrängt zu haben schien, er hatte daran gedacht, sich im großen Speiseraum des Hotelrestaurants zur besten Mittagszeit das Leben zu nehmen oder sich ein Hackebeil zu greifen und den Chef in dessen Büro zu töten. Wir erwähnen das hier nur, um Ihnen zu zeigen, dass Léon wirklich eine schwierige Zeit durchgemacht hatte, in der der Schritt zur Tat nicht mehr weit gewesen war.
»Endlich bin ich mein eigener Herr!«, rief Léon aus. »Das Menü kann ich jetzt zusammenstellen, ohne auf diese dämliche Kuh aus der Marketingabteilung hören zu müssen. Und ich muss auch nicht mehr das Zeug vom Vortag verwursten, um diese verdammten Büfetts zu bestücken! Als wenn die Leute in der Lage wären, sich selbst ein vernünftig zusammengestelltes Gericht auf den Teller zu laden!«
Hector fand Büfetts gut, aber er widersprach nicht, denn wenn man die Leute therapiert, soll man ihnen nicht mit persönlichen Ansichten kommen.
Sie merken schon, dass Léon jene Art von Persönlichkeit hat, die will, dass alles bis ins kleinste Detail hinein so abläuft, wie sie es sich vorgestellt hat – eine tyrannische Persönlichkeit, die oft am Ursprung der größten Erfolge steht, egal, was man uns mit sanfter Stimme über die Vorzüge des partizipativen Managements erzählen mag. Allerdings kann sie genauso gut zu den größten Fehlschlägen führen.
Hector wusste, dass Léons Schwierigkeiten nicht plötzlich wie weggeblasen sein würden, bloß weil er sein eigenes Restaurant aufmachte. Er nahm sich vor, auch auf Léon ein wachsames Auge zu haben.
In diesem Moment läutete die Kirchenglocke – mein Gott, es war schon acht Uhr! Wenn sich Hector jetzt nicht beeilte, würde er zu einem Abendessen bei Freunden, zu dem er gemeinsam mit Clara eingeladen war, zu spät kommen.
Unterwegs sagte er sich, dass er viel lieber einfach nach Hause gefahren wäre und dort seine Zeitung gelesen und ein Glas Wein getrunken hätte. Dabei hätte er sich doch freuen sollen, zum Abendessen zu guten Freunden zu gehen!
Und als er mit schnellem Schritt die Avenue Raymond Poincaré hinablief, begegnete er zu allem Überfluss auch noch einer sehr hübschen Passantin, die gedankenverloren das Schaufenster eines Blumengeschäfts betrachtete. Beinahe hätte er sich noch einmal nach ihr umgedreht. »Was bin ich nur für ein Esel!«, dachte er.
Hector schreitet zur Tat
An jenem Abend waren Hector und Clara bei ihren Freunden Denise und Robert eingeladen. Wie Hector war auch Robert Arzt, aber auf einem anderen Gebiet:
Weitere Kostenlose Bücher