Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
mitzubringen, damit er auch seine Sicht kennenlernen konnte. Könne sie sich mit diesem Vorschlag anfreunden?
»Ja, natürlich, aber ich glaube, er wird nicht mitkommen wollen. Solchen unbehaglichen Situationen weicht er immer aus. Es ist ein bisschen so, als wenn er mit dem Klassenlehrer reden soll … Und was die Arbeit angeht – wenn ich denen nun meine Kündigung auf den Tisch knalle?!«
Hector fuhr zusammen. »Ich glaube, wir sollten noch mal darüber sprechen.«
Roger bleibt aus
Hector wartete auf Roger, der sich sehr verspätet hatte.
Er begann sich schon Sorgen zu machen, denn in den letzten Jahren war Roger nie unpünktlich gewesen (er war immer zu Fuß unterwegs und liebte lange Spaziergänge) und hatte nicht eine einzige Konsultation versäumt. Allerdings war sein Terminkalender ja auch nicht besonders voll.
Um sich ein wenig abzulenken, kam Hector auf seinen Plan zurück, ein Buch über all die Leute zu schreiben, die ein neues Leben anfangen wollen. Er versuchte eine kleine Liste mit all den Abwehrmechanismen zu erstellen, die in einer solchen Krise möglich sind, und veranschaulichte sie an seinem eigenen Fall, den er den »Fall H.« nannte.
Konversion: Eines Morgens erwacht H. mit einer mysteriösen Lähmung beider Beine, die ihn daran hindert, in die Praxis zu gehen. Die medizinischen Untersuchungen ergeben nichts, aber gelähmt ist er trotzdem.
Wahnhafte Projektion: H. weiß, dass er Versuchskaninchen in einem psychologischen Experiment ist, das teuflische Außerirdische ersonnen haben. Sie schicken ihm am laufenden Band verführerische Passantinnen und langweilige Patienten, um herauszufinden, wie lange er das durchhält.
Aber eigentlich glaubte Hector nicht, dass H. diese beiden Abwehrmechanismen einsetzen würde. So etwas wäre ihm schon in jüngeren Jahren passiert. Die beiden folgenden allerdings hatte er bereits angewendet:
Verleugnung: H. merkt nicht, dass er nicht mehr so weitermachen kann; er macht sich seine fast permanente Reizbarkeit und seine Wutanfälle nicht bewusst. Erst seine Frau und ein alter Freund müssen ihn mit der Nase darauf stoßen.
Träumerei: H. träumt von einem neuen Leben – als Ambulanzarzt in Afrika, umgeben von hübschen Krankenschwestern, als Besitzer eines Strandrestaurants an der Riviera, umgeben von hübschen Kellnerinnen, als gefühlvoller Schlagersänger, umgeben von hübschen Bewunderinnen (hatte nicht einst auch Paolo Conte als Rechtsanwalt begonnen?).
Die nun folgenden erschienen ihm bei H. auch wenig wahrscheinlich zu sein, aber es war interessant, sie sich einmal auszumalen.
Ausagieren: H. baggert eine verführerische Passantin an und schleppt sie ab. H. kauft sich einen Spider Alfa. H. sagt seinen nervtötenden Patienten, dass sie nicht mehr in seine Sprechstunde kommen sollen – er wolle sie nie wieder sehen!
Projektion: H. denkt, dass seine Frau ein neues Leben anfangen wolle; er stellt sich vor, wie sie im Büro sitzt, umschwärmt von verführerischen Kollegen, und beginnt heimlich, ihre E-Mails zu überwachen.
Intellektualisierung: H. liest eine ganze Bibliothek von Büchern über den Beginn eines neuen Lebens, analysiert seinen eigenen Fall, erstellt Listen und Tabellen und schreibt am Ende ein Buch zu diesem Thema.
Aber tat er das nicht gerade?
Verlagerung: H. sagt seinen Patienten, sie sollten ihre Arbeit hinschmeißen, auf Reisen gehen, ihrem Partner den Laufpass geben, sich ein bisschen anstrengen und endlich ein neues Leben anfangen.
Regression: Nach seiner Heimkehr von der Arbeit trinkt H. jeden Tag ein paar Gläschen mehr. Er kauft sich Kollektionen seiner alten Lieblingsfilme und schaut sie sich am Vormittag an, wobei er heiße Schokolade trinkt. Er beginnt Armbanduhren zu sammeln oder vielleicht Miniaturausgaben von Flugzeugen des Zweiten Weltkriegs.
Kompensation: H. geht ins Fitnessstudio und macht Kraftsport. H. kauft sich ein Cabrio – einen Rolls-Royce Corniche. H. versucht, in einen alten und sehr elitären Klub aufgenommen zu werden. H. will sich in den Vorstand der Ärztekammer wählen lassen.
Es war wohl besser, wenn Clara diese kleine Liste niemals zu Gesicht bekäme. Sie könnte denken, es wären lauter Zukunftspläne, wo es doch nichts als eine Fingerübung war!
Petit Hector ist erwachsen geworden
Roger indessen war noch immer nicht aufgetaucht.
Plötzlich vernahm Hector ein leises Signal seines Computers: Sein Sohn rief ihn an.
Hector II . erschien auf dem Bildschirm, wie immer mit ernsthafter
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