Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
und auf der Stelle Tabletten zu schlucken, die er aus seiner Schreibtischschublade geholt und neben die er ein Glas Wasser gestellt hatte.
Währenddessen vernahm er erneut die Glockenschläge von Saint-Honoré-d’Eylau und schließlich die Schritte einer weiteren Person im Wartezimmer.
Endlich bekreuzigte sich Roger und schluckte rasch eine der Tabletten hinunter. Hector hätte es lieber gesehen, wenn er gleich drei genommen hätte. Immerhin hatte er einen kleinen Trick angewandt und Roger Retardtabletten gegeben, deren Wirkung eine ganze Woche anhält.
»Da bin ich«, sagte Roger und stand plötzlich auf.
Hector folgte ihm bis zur Tür des Sprechzimmers und bat ihn, noch ein wenig im Warteraum zu bleiben, aber Roger schaute ihn nicht einmal an und hastete wortlos die Treppen hinunter. Voller Sorge wandte sich Hector nun dem Wartezimmer zu, aus dem Stimmfetzen drangen; er öffnete die Tür und erblickte Olivia und Tristan, die nebeneinander auf dem Sofa saßen.
»Das ist doch eine hanebüchene Argumentation!«, seufzte Tristan.
»Totale Gleichgültigkeit gegenüber der übrigen Welt!«, rief Olivia aus.
Als sie Hector sahen, verstummten sie. Er erklärte ihnen die Lage: Ein Notfall habe ihn so aufgehalten. Hatte Olivia noch ein wenig Zeit? Und konnte Tristan noch warten? Beide bejahten seine Frage.
Hector beruhigt Olivia
»Also wirklich«, sagte Olivia, »was für unsympathische Patienten Sie haben!«
»Meinen Sie den Herrn, der mit Ihnen zusammen gewartet hat?«
Hector war ziemlich angespannt. Normalerweise achtete er streng darauf, dass seine Patienten einander nie in der Praxis begegneten, und nun war es wegen der Verrücktheit des armen Roger doch geschehen.
»Ja, das ist einer von diesen Finanztypen, die für unser ganzes Unglück verantwortlich sind!«
»Kommen wir doch auf uns zurück«, sagte Hector.
Aber Olivia war nicht mehr aufzuhalten. »Diese Leute finden es ganz normal, dass sie reich sind; sie glauben, das hätten sie verdient! Und dann hat er mir auch noch erklärt, es gebe überhaupt nur Arbeitslose, weil die Löhne zu hoch seien! Der mit seinem Paul-Smith-Anzug und seinen Berlutti-Mokassins trägt doch schon ein Mehrfaches des Mindestlohns am Leibe mit sich herum!«
»Darauf haben Sie geachtet?«
»Äh ja – habe ich vielleicht nicht das Recht, mich für Mode zu interessieren?!«
»Ich bin beeindruckt«, sagte Hector, »aber können wir jetzt auf unsere Angelegenheiten zurückkommen?«
»Und wissen Sie, was an der ganzen Geschichte am empörendsten war?«
»Nein«, sagte Hector und gab die Hoffnung auf, das Gespräch noch in die richtige Richtung lenken zu können.
»Wie er mich hat spüren lassen, dass er mich für eine Idiotin hält. Dass ich vielleicht lieb und nett bin, aber nichts davon verstehe, wie die Welt funktioniert. Das ist mir bei Gesprächen mit Leuten wie ihm schon oft aufgefallen – mit denen jedenfalls, die überhaupt noch fähig sind, eine Diskussion zu führen. Man merkt es sofort an ihrem Blick: Für sie begreifen wir überhaupt nichts!«
Hector verstand sehr gut, was Olivia sagen wollte; er hatte dieses Gefühl bisweilen selbst, wenn er mit Freunden debattierte, die politisch weiter rechts standen als er. Es war interessant, doch Hector war schließlich nicht dazu da, eine interessante Unterhaltung zu führen: Er sollte Olivia helfen, ein neues Leben anzufangen – oder aber ihr Leben mit anderen Augen zu sehen.
Hector beruhigt Tristan
»Also wirklich, Doktor«, sagte Tristan, »Sie haben ja die eingefleischtesten Linken unter Ihren Patienten!«
Natürlich meinte er Olivia.
»Sie hat noch nicht einmal kapiert, dass man die Arbeitslosigkeit einzig und allein durch private Investitionen verringern kann und dass man meinen Kunden eher Anreize schaffen sollte, statt sie übermäßig mit Steuern zu belasten. Sonst investieren sie im Ausland! Diese Frau hat immer noch nicht akzeptiert, dass das kapitalistische System gewonnen hat!«
»Wie jeder zweite Franzose«, sagte Hector.
»Ah ja, das ist leider wahr!«
»Können wir jetzt auf unsere Konsultation zurückkommen?«
»Und wissen Sie, was mich am meisten aufgeregt hat?«
»Nein«, sagte Hector, der begriffen hatte, dass sich auch Tristan erst mal Luft machen musste.
»Während des ganzen Gesprächs habe ich gespürt, dass sie mich für einen Schuft hielt. Dass sie sich irgendwie moralisch überlegen fühlte. Wissen Sie, was ich meine?«
»Ja«, sagte Hector, der diesen Eindruck auch manchmal
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