Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
Psychiatrie von heute ausgesucht. Natürlich hatte sie damit begonnen, ihren Großvater ausgiebig zu interviewen.
»Nur«, meinte der alte François, »dass ich mich ein bisschen wie ein Vertreter der Psychiatrie von gestern fühle.«
»Von wegen, Großvater! Du hast sehr moderne Dinge gesagt.«
»Mag sein, aber ich glaube trotzdem, dass du mehrere Gesprächspartner brauchst. Lieber Freund, wären Sie bereit, Ophélie …«
»Aber selbstverständlich. Wie könnte ich mich weigern, die Enkeltochter eines Freundes bei den ersten Schritten ins Berufsleben zu unterstützen?«
Am Ende mussten sie sich voneinander verabschieden. Hector sah, wie der alte François Ophélie untergehakt hatte und flotten Schrittes mit ihr davonging. Er fragte sich, ob er eines Tages selbst diese Freude erleben würde – einen Spaziergang mit seiner Enkeltochter.
Sabine will immer noch ein neues Leben anfangen
»Wie dem auch sei«, sagte Sabine, »Sie können mir noch so sehr helfen, indem Sie mir die richtigen Fragen stellen und all das – ich sehe trotzdem nicht, wie ich momentan mit meiner Arbeit zufrieden sein könnte.«
»Aber früher waren Sie zufrieden?«
»Sagen wir mal, dass mich der Erfolg und die Gehaltserhöhungen vielleicht eine Weile betäubt haben.«
In Sabines Worten bewahrheitete sich gerade eine Theorie über das Glück: Eine beträchtliche Erhöhung unseres Lebensstandards macht uns zunächst glücklicher, aber dann gewöhnen wir uns daran, und nach ein paar Monaten sind wir wieder bei unserer üblichen mürrischen Stimmung angelangt.
»Und damals hatte ich einen guten Chef, während der neue nur an seine Karriere denkt.«
»Denken nicht alle an ihre Karriere?«, fragte Hector und dachte dabei: Alle außer mir, und wahrscheinlich sollte auch ich es häufiger tun.
»Ja«, meinte Sabine, »aber ihm sieht man sofort an, dass seine Gedanken um nichts anderes kreisen. Bei ihm läuft es nach dem Motto kiss-up, kick-down .«
Hector gefiel dieser neue Ausdruck, der bedeutete, dass man sich bei seinen Vorgesetzten einschmeichelt und zu seinen Untergebenen brutal ist.
Sabine hatte ein gutes Betäubungsmittel für die etwas schmerzlicheren Seiten ihres Jobs verloren – einen guten Chef.
Ein guter Chef kann bewirken, dass Sie fast alles erträglich und sogar aufregend finden, vorausgesetzt, Sie haben wie Sabine auch das Zeug zu einem guten Untergebenen.
Hector dachte, dass Sabines Tage in jenem Konzern gezählt waren, und fragte sich, ob ihr diese Idee bereits selbst gekommen war. Aber die Sprechstunde war schon weit vorangeschritten, und sie mussten auch noch über den anderen Anlass für Sabines Midlife-Crisis sprechen – über ihren Ehemann.
»Ach, ich frage mich, was ich da überhaupt noch erwarten kann …«, meinte sie.
»Aber merkt Ihr Mann denn überhaupt, dass Sie nicht zufrieden sind?«
»Ich habe es wohl mittlerweile aufgegeben, ihn ändern zu wollen.«
Sabines Mann hatte natürlich auch gute Eigenschaften: Er war eine Frohnatur, amüsierte sich gern und liebte es, spontan Freunde zu sich einzuladen und mit seinen Kumpels einen zu heben. Im Urlaub nahm er Sabine und die Kinder auch auf herrliche Ausflüge mit. Andererseits mochte er nur das tun, was ihm selbst Spaß machte. Im Grunde war er vor allem ein guter Ferienehemann.
Nicht so gerne erledigte er hingegen die Einkäufe, begleitete Sabine in die Geschäfte oder sprach mit den Lehrern seiner Kinder, und er legte auch keinen Wert auf trautes Zusammensein nur mit seiner Frau. Lieber brachte er dann Freunde mit nach Hause.
In seinem Beruf als Tennislehrer ging er ähnlich vor: Er riss sich nicht gerade ein Bein aus, um mehr Schüler zu bekommen oder mehr Trainingsstunden zu geben, und er wollte nur sympathische Schüler haben. Sabine hatte ihn übrigens in Verdacht, bei bestimmten Frauen nicht nur die Rückhand verbessert, sondern auch anderweitig die Leistungsfähigkeit getestet zu haben.
»Und wie kommen Sie damit zurecht?«, fragte Hector.
»Eigentlich ist er ein großes Kind, wenn Sie so wollen. Mir fällt es schwer, ihm richtig böse zu sein. Und ein guter Vater ist er außerdem. Was will man mehr?«
Hector fiel wieder ein, dass Sabine ihm erzählt hatte, dass ihr eigener Vater ein fröhlicher, untreuer und verschwenderischer Typ gewesen war. Vielleicht hatte das ihre Erwartungen an die Männer überhaupt ein wenig durcheinandergebracht oder im Gegenteil zu fest eingestellt.
Er schlug Sabine vor, beim nächsten Mal ihren Mann
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