Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
hatte, wenn er mit Leuten redete, die politisch weiter links standen als er.
»Ich hatte leider nicht mehr die Zeit, ihr zu erklären, dass ihr Gehalt aus all den Steuern stammt, die Leute wie ich zahlen!«
Hector dachte, dass das ein Glück war, denn sonst hätte er vielleicht doch noch die Beruhigungsspritze gebraucht, die in der Schreibtischschublade bereitlag.
»Und wenn wir jetzt wieder auf Sie zurückkommen?«
»Ach«, sagte Tristan mit einem etwas desillusionierten Lächeln, »auf mich … Schauen Sie, ich habe die Liste gemacht mit den Dingen, die ich vom Leben erwarte.«
»Ich hatte aber nur gefragt, was Sie von Ihrer Arbeit erwarten.«
»Ja, aber ich habe es ein bisschen weiter gefasst.«
Tristan schlug einen Terminkalender der Marke Hermès auf, riss eine Seite heraus und reichte sie Hector.
Was ich vom Leben erwarte:
– zufrieden mit mir sein
– den Eindruck haben, dass ich der Beste bin
– mich nicht langweilen
»Und im Moment ist das nicht der Fall?«, fragte Hector.
»Bei der Arbeit nicht, wie Sie ja schon wissen. Nur noch, wenn …« Tristan stockte.
»Nur noch wann?«
»Wenn ich eine Frau verführe! Im Moment habe ich einen teuflischen Rhythmus«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, das seine perfekten Zähne sichtbar werden ließ. »Ich gehe jeden Abend aus und …«
Hector hatte keine große Lust, Details über Tristans Abendgestaltung zu erfahren.
»Und das stellt Sie zufrieden?«
Tristan schaute ihn an, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht. »Ob es mich zufriedenstellt? … Für den Augenblick schon, dazu noch mit einem Gläschen guten Champagner im Kopf. Aber mir ist völlig klar, dass es eine Art Kompensation ist. Ich bin nicht mehr glücklich bei meiner Arbeit, also gleiche ich das durch einen anderen Wettstreit aus. Ich kompensiere es …«
Tristan hatte gerade seinen persönlichen Abwehrmechanismus offengelegt: die Kompensation!
»Aber ich weiß ja, dass das ziemlich schäbig ist; morgens beim Aufwachen fühle ich mich nicht gut, vor allem, wenn die Frau noch da ist. Außerdem sind manche wirklich ganz reizend, da habe ich den Eindruck, einen Schatz zu verschwenden. Also, nein, im Grunde stellt es mich nicht zufrieden. Aber es ist ein bisschen wie eine Sucht geworden.«
»Eine sexuelle?«
»Nein. Glaube ich jedenfalls nicht …«
Hector konnte sich vorstellen, dass Tristan nicht nach Sex süchtig war, sondern nach anderen Dingen. Er erinnerte sich, dass sein Patient eine Depression durchgemacht hatte, nachdem eine seiner Freundinnen ihn nicht länger angehimmelt, sondern sich von ihm getrennt hatte. Während der nächsten zehn Minuten stellte er Tristan viele Fragen, und am Ende sagte der Bankier: »Ich glaube, ich bin süchtig nach … nach Bewunderung. Wenn ich anfange, mit einer Frau zu flirten, und ich spüre ihre Überraschung, ihre Bewunderung … Wenn ich die Verwirrung in ihrem Blick sehe … Das ist es, was ich so toll finde!«
Tristans Bedürfnis nach Bewunderung war sowohl eine Stärke als auch eine Schwäche. Hector sagte sich, dass es eine Weile dauern würde, um an diesem Bedürfnis etwas zu ändern und Tristan dazu zu bringen, dass seine Selbstachtung nicht mehr vom Blick der anderen abhing. Konnte Tristan dieses Bedürfnis auf kurze Sicht nicht wirklich am besten befriedigen, indem er den Don Juan spielte?
Was hieße es für ihn, ein neues Leben anzufangen?
Plötzlich fühlte sich Hector schrecklich müde.
Hector stimmt sich ein
Hector hatte immer daran geglaubt, dass es nützlich sein kann, wenn man sich einem wohlwollenden Zuhörer wie dem alten François anvertraut. Eine solche Zuhörerrolle hatte er ja auch zu seinem Beruf gemacht. Was ihn allerdings selbst betraf, so war er ein bisschen nach dem Prinzip Leide und stirb, ohne zu klagen erzogen worden. Es war das Fazit eines Gedichts über den Tod eines Wolfs, das er in der Schule gelernt hatte und dessen Schlussverse er noch immer auswendig wusste:
Dem Erdensohne, der ins Nichts vergeht
Und dessen Spur der erste Wind verweht,
Ziemt Schweigen. Wilder, seit dein Auge brach,
Weiß ich, dass Winseln, Beten letzte Schmach.
Nach dem erlosten Schicksal ist die Pflicht
Zu tun. Was sonst dir werde, achte nicht.
Zu wirken gilt’s, zu kämpfen und zu leiden
Und lautlos, wenn die Stunde kommt, zu scheiden.
Dieser Wolf war wirklich ein Weltmeister in Sachen Unterdrückung und Akzeptanz – zwei weiteren Abwehrmechanismen.
Im Englischunterricht hatte er mit seinen Mitschülern
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