Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
ein anderes Gedicht gelernt. Ein großer englischer Schriftsteller der Kolonialzeit hatte es für seinen Sohn geschrieben, und es hieß If . Auch an diese Verse erinnerte sich Hector noch gern:
Wenn du auf eines Loses Wurf kannst wagen
Die Summe dessen, was du je gewannst,
Es ganz verlieren und nicht darum klagen,
Nur wortlos ganz von vorn beginnen kannst.
»Was hast du gesagt?«, fragte Clara, als sie in die Küche kam.
»Ähm … nur alte Erinnerungen.«
»Und nun werde auch ich dich noch allein lassen«, sagte Clara.
»Allein lassen?«
Wollte Clara ihm etwa verkünden, sie würde sich von ihm trennen?!
»Also wirklich, hast du mir wieder mal nicht zugehört?«
»Ähm …«
»Ich hatte dir doch gesagt, dass meine Firma mich für vierzehn Tage nach New York schickt!«
»Ach ja, natürlich! Freust du dich darauf?«
»Anfangs habe ich mich gefreut. Aber inzwischen frage ich mich … Und dann können aus den vierzehn Tagen auch mehr werden, je nachdem, wie es mit dem Projekt vorangeht …«
Hector beruhigte sie: Jetzt, wo er weniger Patienten annehme und quasi im Urlaub sei, fühle er sich schon besser, Clara könne unbesorgt ins Flugzeug steigen und sogar länger als zwei Wochen in Amerika bleiben, wenn es nötig wäre.
Er sah aber, dass Clara noch immer ein sorgenvolles Gesicht machte. Warum nur hatte er ihr in den letzten Monaten so viel Anlass zur Beunruhigung gegeben? Seine halbe Midlife-Crisis würde er doch bestimmt in den Griff bekommen!
Hector, ein Schriftsteller vom Montparnasse
Am nächsten Tag wartete Hector in einem Café gegenüber vom Petit Luxembourg auf Ophélie.
Den Morgen hatte er im unweit gelegenen Tarnier-Krankenhaus verbracht, wo er mit der Sozialarbeiterin nach einer Möglichkeit gesucht hatte, wie Roger in Paris bleiben könnte. Sie hatten aber keine Lösung gefunden.
Weil er neuerdings versuchte, so wenig Zeit wie möglich an seinem Schreibtisch zuzubringen, hatte er sich mit Ophélie lieber in einem ruhigen Café treffen wollen. Er würde sich dort weniger eingesperrt fühlen und ihr leichter antworten können.
Das Café befand sich genau vis-à-vis der Closerie des Lilas, einer berühmten Brasserie, in die einst Picasso, Hemingway und viele andere Schriftsteller und Künstler aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gekommen waren, um miteinander zu diskutieren und Halblitergläser mit Bier zu leeren. Damals war Paris berühmt gewesen, weil man dort günstig leben konnte, weil es viele leichte Mädchen gab und die Stadt ein kultureller Gärkessel war, der laufend neue Moden und Stile hervorbrachte.
Aber das gehörte in eine vergangene Epoche.
Zu dieser vormittäglichen Stunde wollte Hector die Closerie lieber meiden und setzte sich stattdessen ins Café Bullier auf der anderen Straßenseite des Boulevard Montparnasse, von wo aus man einen schönen Blick auf den Jardin du Luxembourg hatte. Von der verglasten Terrasse aus sah man in der Ferne zwischen den Baumreihen die herrliche Fassade des Palais Médicis, den sich eine französische Königin italienischen Ursprungs hatte erbauen lassen. Dieser königliche Palast beherbergte heute die Senatoren der Fünften Republik – der Republik also, die in Paris eine Menge jener funktionalistischen Gebäude hatte errichten lassen, die dem alten François so missfielen. Häuser vom Schlage des nahe gelegenen Studentenwohnheims, das wie ein riesiger Karnickelstall aussah und kürzlich barmherzigerweise renoviert worden war, wobei man es in dezenteren Farben gestaltet hatte, die das Auge weniger beleidigten.
Während Hector auf Ophélie wartete (er war schon vor der vereinbarten Zeit gekommen, um noch ein paar ruhige Augenblicke zu haben, denn er dachte, so etwas sei gut für sein Burn-out), schlug er sein Notizbüchlein auf und holte einen Bleistift hervor.
Clara war begeistert von seiner Idee gewesen, ein Buch über die Midlife-Crisis zu schreiben.
Er fuhr mit seiner Analyse des Falles H. fort. Warum sollte man nicht auch an Abwehrmechanismen denken, die von etwas mehr Reife zeugten? Und so schrieb er:
Altruismus: H. gibt seine Privatpraxis in Paris auf und wird Arzt in einer Ambulanz irgendwo in Afrika.
Unterdrückung: H. hört auf, über all das nachzudenken, denn es bringt ja sowieso nichts. Er kennt sein Problem und steigt wieder ins alte Laufrad, ohne zu jammern und zu klagen.
Akzeptanz: H. gesteht sich ein, dass er eine Krise durchmacht, aber akzeptiert schließlich sein Leben so, wie es ist, weil er
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