Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
einst der berühmte französische Psychiater Charcot den jungen Sigmund Freud beeinflusst hatte; Freud hatte die Vorlesungen besucht, in denen Charcot seine Kranken präsentierte. Auch das zu einer Zeit, als Paris noch der Nabel der Welt gewesen war, dachte Hector.
Robert und Hector saßen auf der Glasveranda des Cafés, die sie vor der winterlichen Witterung schützte, obwohl der Frühling eigentlich schon begonnen hatte. Von dort hatten sie einen schönen Blick auf die Kuppel der Kapelle, eine herrliche Konstruktion jenes Architekten, der auch das unglaublich schöne Schloss von Vaux-le-Vicomte entworfen hatte. Dort war Hector als kleiner Junge mit seinen Eltern im Schlosspark spazieren gegangen – damals waren sie jünger gewesen als er heute. Es lohnte sich, die Kapelle des Krankenhauses zu besichtigen, aber die Touristen ließen sie links liegen. Denn obgleich die Salpêtrière eine großartige Abfolge von Gebäuden und Innenhöfen bildete, ganz nach dem Geschmack der Ära des Sonnenkönigs, blieb ein Krankenhaus doch ein Krankenhaus, und das machte den Leuten ein wenig Angst, weil es sie an die eigene Sterblichkeit erinnerte.
»Ich habe eine Geliebte«, sagte Robert plötzlich.
Hector war sich nicht sicher, ob er Genaueres wissen wollte. Aber Robert musste sich jemandem anvertrauen.
»Es ist so blöd«, sagte er, »der Klassiker. Die junge Frau, die den Chef bewundert. Ich konnte nicht widerstehen, obwohl ich es versucht habe …«
»Und jetzt?«
»Ich liebe Denise, ich möchte ihr nicht wehtun, ich will nicht, dass wir uns trennen … auch wenn sie mir manchmal auf die Nerven geht.«
»Und die andere?«
»Sie hat mir gesagt, dass sie die Situation akzeptiert, wie sie ist. Dass sie weiter nichts erwartet. Dass sie jung ist und glücklich mit dem, was sie hat.«
»Und glaubst du ihr das?«
»Ich denke, sie versucht, es sich selbst einzureden. Aber natürlich wird sie das nicht lange durchhalten, auch wenn es ihr nicht bewusst ist. Es ist ein wenig wie mit meinen Patienten, die nicht der Tatsache ins Auge sehen wollen, dass ihr Krebs sich verschlimmert.«
»So etwas nennt man ›Verleugnung‹.«
»Ach so? Das trifft es ganz gut. Ist es eine Krankheit?«
»Nein, eher ein Mittel, um sich zu schützen – es gibt eine unerfreuliche Realität, und man will nicht so genau hinschauen.«
»Genau davon hast du ja letztens beim Abendessen …«
»Nein, an dem Abend habe ich nicht von Verleugnung gesprochen, sondern von Unterdrückung. Das ist etwas anderes.«
»Das musst du mir erklären.«
»Verleugnung ist, wenn du nicht siehst, was dich stört; es ist dir überhaupt nicht bewusst.«
»Ja, ich verstehe. So wie bei meinen Patienten, deren Erkrankung sich trotz Therapie verschlimmert, die aber Pläne für ihren nächsten Urlaub schmieden.«
»Genau! Unterdrückung ist etwas anderes. Du weißt um die Realität, aber weil du sowieso nichts ausrichten kannst, vermeidest du es einfach, daran zu denken. So würde man unser Verhalten letztens beim Abendessen nennen.«
Robert hatte seinen Weißwein ausgetrunken. »Ich glaube, ich hätte gern öfter die Fähigkeit zur Verleugnung«, sagte er.
»Warum?«
»Um das alles nicht zu merken … Um zum Beispiel nicht zu merken, dass ich zu viel trinke.«
»Aber es ist besser, wenn du es merkst – dann wirst du versuchen, dich im Zaum zu halten!«
»Darüber hat übrigens dein Kollege schon mit mir gesprochen.«
»Der alte François?«
»Ja. Ich weiß nicht, woran er es gemerkt hat. Vielleicht bei jenem Abendessen, oder vielleicht hat er auch hier am Vormittag mal gerochen, dass ich ein Glas getrunken hatte. Morgens trinke ich nie mehr als ein Glas.«
»Du hast ihn vormittags hier getroffen?«
»Nein, nicht im Café! In meiner Abteilung. Er hält dort immer noch ein paar Sprechstunden für die stark deprimierten Patienten ab. Er hat mir nur gesagt: ›Robert, Sie sollten darauf achten, dass Sie nicht zu viel trinken, das ruiniert selbst die Besten!‹ Er hat mir sogar geraten, mit dir darüber zu sprechen, was ich ja jetzt getan habe!«
Innerhalb von zehn Minuten hatte Robert gestanden, dass er seiner Frau untreu war und ein Alkoholproblem hatte. Hector war überrascht, denn normalerweise war sein Freund jemand, der stets ein Lächeln auf den Lippen behielt, der aufmerksam zuhörte, ohne zu viel von sich selbst preiszugeben, und der gern Späße machte, um die Situation zu entspannen.
»Hast du vielleicht auch Lust, ein neues Leben anzufangen?«,
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