Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
unausweichlichen Schicksalsprüfungen, aber endlich führt uns ein günstiger Wind in den sicheren Hafen – vorausgesetzt, wir haben uns unterwegs nicht schon versenken lassen.
Er sagte sich, dass das seine Aufgabe bei manchen Patienten war: Während sie darauf warteten, dass ein günstiger Wind zurückkam, musste er sie am Untergehen hindern.
Als er Ophélie erzählte, woran er gerade gedacht hatte, sagte sie: »Das ist ja lustig, mein Großvater hat es ganz ähnlich ausgedrückt! Aber glauben Sie, dass das Glück am Ende immer wiederkommt?«
»In den meisten Fällen schon.«
Und doch wusste er, dass es nicht stimmte; nicht immer stellte sich das Glück wieder ein; aber warum sollte er Ophélie eine so traurige Vorstellung in den Kopf setzen? Er wollte ihren Optimismus nicht zerstören, denn die Optimisten sind ganz zu Recht optimistisch – sie haben, wie etliche Studien bewiesen, ein glücklicheres Leben als der Durchschnitt der Bevölkerung.
»Aber im Moment habe ich das Gefühl, dass ich mich noch gar nicht richtig vom Beckenrand entfernt habe«, sagte Ophélie.
»Vielleicht schon weiter, als Sie denken«, erwiderte Hector beinahe mechanisch, denn er hatte die Gewohnheit, ein freundliches Wort zu sagen, wenn die Leute Bemerkungen machten, mit denen sie sich selbst abwerteten.
Ophélie blieb einen Augenblick lang stumm und sagte dann, ohne Hector anzuschauen: »Glauben Sie wirklich?«
Hector spürte so etwas wie Verwirrung in ihrer Stimme, und dann warf ihm Ophélie einen kurzen Blick zu, und er sah, dass sie errötet war.
»Verdammt«, sagte sich Hector, »pass bloß auf!«
Wenn Hector Frauen begegnete, die viel jünger waren als er, dachte er normalerweise, dass sie in ihm sowieso nur einen angehenden Greis sahen, der harmlos und dazu noch verheiratet war, und dass es also nicht gefährlich werden konnte. Allerhöchstens konnte ihn kurz die Versuchung packen, aber bestimmt würde er ihr niemals erliegen, zumal dieses Gefühl natürlich auf seine Seite beschränkt bliebe.
Aber er hatte auch schon erlebt, dass es nicht immer so einfach war – besonders bei jungen Frauen, deren Väter sich einst kaum um sie gekümmert hatten oder früh gestorben waren. Auf diese Frauen schien Hector manchmal eine besondere Anziehungskraft auszuüben, also bemühte er sich, einen gewissen Abstand zu wahren, und vermied es bewusst, mit ihnen jene Art von Humor und Vertraulichkeit zu teilen, die manche Frauen verliebt macht, bevor sie es gemerkt haben.
Und plötzlich erinnerte er sich daran, was ihm der alte François einmal gesagt hatte: Ophélie hatte ihren Vater verloren (den Schwiegersohn des alten François), als sie ungefähr zehn gewesen war – und dazu noch bei einem Schiffsunglück!
Damit das Schweigen nicht noch länger fortdauerte, begann er ihr schnell zu erzählen, wie er sich als kleiner Junge eines Wintertages in das eisige Wasser des großen Beckens gestürzt hatte, um inmitten entsetzter Enten sein Schiff selbst zurückzuholen, und über diese Geschichte musste Ophélie sehr lachen.
Hector erklärt sich
Am Abend saß Hector auf dem Wohnzimmersofa, las die Zeitung und trank Mineralwasser. Er versuchte, sich auf den Artikel zu konzentrieren, in dem keine guten Nachrichten standen – ein Ökonom schrieb, dass man zwischen hoher Arbeitslosigkeit und sehr niedrigen Löhnen wählen müsse –, aber die ganze Zeit war ihm mehr als bewusst, dass Clara zwar schwieg, ihn aber zu belauern schien. Normalerweise ließ sie ihn zu dieser Tageszeit in Ruhe, aber heute Abend nicht.
Vielleicht fand sie, dass er jetzt ja weniger Patienten pro Tag empfing und deshalb seine kleine Druckabbauphase nicht mehr verdient hatte? Oder quälte sie sich mit einer Sache herum, über die sie mit ihm sprechen wollte, und wagte es nicht, damit anzufangen?
Also sprach Hector jenen magischen Satz aus, der bei vielen Ehepaaren mit der Zeit in Vergessenheit gerät und der zeigt, dass man sich noch immer für den anderen interessiert.
»Chérie«, sagte er, »ist alles in Ordnung? Ich habe das Gefühl, dir liegt etwas auf der Seele.«
Clara schaute ihn überrascht an; dann wandte sie den Blick ab und meinte: »Nein … es ist alles gut.«
Aber selbst in den schlimmsten Momenten von Unaufmerksamkeit hätte Hector ihr diese Antwort nicht geglaubt, nicht, wenn sie in diesem Ton ausgesprochen wurde.
»Wirklich?«, fragte er. »Das kommt mir aber ganz anders vor.«
Und da setzte sich Clara in den Sessel ihm gegenüber, schaute
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