Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
ihm in die Augen und sagte, sie habe tatsächlich Sorgen.
Hector sah, dass ihr Tränen in den Augen standen. »Na komm, erzähl mir, was los ist.«
Clara verstummte wieder, als zögere sie noch, ihm zu sagen, was sie auf dem Herzen hatte. Und schließlich begann sie: »Heute Nachmittag habe ich den Bus genommen …«
Im ersten Moment dachte Hector, in diesem Bus hätte es einen Zwischenfall gegeben, und Clara wäre vielleicht Zeugin eines tätlichen Angriffs geworden – oder schlimmer noch, jemand hätte sie selbst angegriffen. Sein Herz pochte schneller, was uns beweist, dass es auch noch auf andere Dinge als das plötzliche Erscheinen einer schönen jungen Frau reagieren konnte.
Aber Clara redete schon weiter: »Ich wollte mir im Bon Marché Strumpfhosen kaufen und habe die Linie 89 genommen …«
Bis dahin hörte sich alles normal an. Das Warenhaus Le Bon Marché präsentierte die vielfältigsten Schätze und stand auch im Ruf, ein beinahe unerschöpfliches Angebot an Strumpfhosen und Socken zu haben.
»Und vom Bus aus habe ich dich gesehen.«
Hector brauchte einen Moment, ehe er begriff. Die 89 fuhr durch die Rue de Vaugirard, und da war er tatsächlich entlanggegangen, als er aus dem Jardin du Luxembourg gekommen war, und zwar mit –
»Du bist dort mit einer jungen Frau herumspaziert.« Clara hielt ihren Blick fest auf Hector geheftet.
»Aber Chérie, natürlich, das war doch Ophélie, die Enkelin des alten François. Ich hatte mich mit ihr verabredet …«
»Du hast dich mit ihr verabredet?!« Claras Augen schossen Blitze ab.
Hector setzte zu einer umständlichen Erklärung an und berichtete von dem Treffen mit dem alten François, zu dem Ophélie hinzu gekommen sei, und warum sie sich jetzt im Café Bullier getroffen hatten und davon, dass sie beide zufällig den gleichen Weg gehabt hatten, und das war die Wahrheit, nichts als die Wahrheit und die ganze Wahrheit. In Claras Augen las er, dass sie ihm glaubte. Ihr Gesicht aber sah noch so unglücklich aus wie vorher.
»Also, ich bitte dich, da gibt es wirklich keinen Grund, besorgt zu sein.«
Hector war überrascht, denn eigentlich war Clara nicht besonders eifersüchtig, und nie zuvor hatte sie ihm gegenüber wegen einer anderen Frau solche Emotionen gezeigt.
Clara blieb sitzen.
»Verstehst du, Chérie? Mach dir keine Gedanken mehr, ja?«
Clara schaute ihm wieder in die Augen, und jetzt begannen ihr die Tränen das Gesicht hinabzulaufen: »… und ihr seid nebeneinander hergegangen …«
»Ja, natürlich, ich habe dir doch gesagt, dass sie auch in meine Richtung musste.«
Und plötzlich stand Clara auf und sagte: »Ihr habt so glücklich ausgesehen!«
Glücklich? Hector war perplex. Worüber hatte er in diesem Moment mit Ophélie gesprochen?
»Seit Monaten sehe ich mir dein unglückliches Gesicht an –«
Aber nein, wirklich, so unglücklich war er doch gar nicht …
»– und dort hast du so glücklich ausgesehen! So glücklich !«, stieß Clara zwischen zwei Schluchzern hervor und floh ins Schlafzimmer.
Hector hört zu
Zwei Tage später war Clara nach New York abgeflogen.
Sie können sich die Szene vorstellen – wie Clara Hector auf dem Flughafen ein letztes Mal in die Arme schloss, wie sie kaum ihre Tränen zurückhalten konnte und wie sie ihm sagte, dass er gut auf sich aufpassen solle und dass sie sich keine Sorgen machen werde. Das Thema Ophélie wagte natürlich keiner der beiden anzuschneiden: Clara nicht, weil sie nicht so dastehen wollte, als würde sie Hectors Worte in Zweifel ziehen, und Hector nicht, weil er nicht zeigen wollte, dass es keine ganz harmlose Sache war.
»Und wie läuft es mit Denise?«
Nach der Krise mit Clara interessierte sich Hector plötzlich brennend für die Ehen seiner Freunde, und so hatte er beschlossen, mit Robert einen Kaffee zu trinken.
»Ach«, meinte Robert, »wir wursteln uns so durch.«
Hector fand, dass dieser Ausdruck nicht gerade ein Synonym für Eheglück war, aber er traute sich nicht, weiter in Robert zu dringen.
Sein Freund drehte sich zum Ober, um ein Glas Weißwein zu bestellen, und ein alter, hinkender Kellner mit Sträflingsvisage brachte es ihm unverzüglich.
Es war zehn Uhr morgens. Sie saßen in einem Café direkt gegenüber vom Eingang der Salpêtrière – dem Krankenhaus mit Roberts Krebsstation. Hector hatte in jungen Jahren seine Zeit als Assistenzarzt in einem der Gebäude dieser großen Klinik absolviert, und zwar in derselben Psychiatrie, in der
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