Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
erkundigte sich Hector.
»In gewisser Weise schon. Ich trage in dieser großen Krankenhausabteilung zu viel Verantwortung auf meinen Schultern. Ich verbringe zu viel Zeit mit Konferenzen mit den Leuten von der Verwaltung, ich muss dauernd um unser Budget kämpfen oder Tätigkeitsberichte schreiben. Eigentlich wäre ich am liebsten wieder ein kleiner Assistenzarzt, der sich nur um die Medizin und um seine Patienten kümmert.«
»Also sind es nicht die Patienten, die dich so erschöpfen?«
»Sagen wir mal, sie erschöpfen mich in vertretbarem Maße … Aber der Rest bringt das Fass zum Überlaufen!«
»Und wenn du von deinem Posten als Chefarzt zurücktrittst? Du könntest dann einfach als Arzt weiterpraktizieren.«
Robert lächelte traurig. »Daran habe ich auch schon gedacht. Aber leider finde ich auch Gefallen daran, Chef zu sein. Und wahrscheinlich an den bewundernden Blicken meiner jungen Mitarbeiterinnen … Wahrscheinlich hängt man mit den Jahren immer mehr an seinen Posten und Titeln, weil alles Übrige den Bach heruntergeht!«
»Das nennt man Kompensation«, sagte Hector. »Man kniet sich in einen Bereich richtig hinein, um auszugleichen, dass man auf den übrigen Gebieten immer schwächer wird. Das ist auch ein Abwehrmechanismus.«
»Ach, wirklich? Aber wenn du dir dabei völlig im Klaren bist, weshalb du diese Kompensation betreibst, funktioniert es dann trotzdem?«
»Wahrscheinlich weniger gut.«
Robert war tatsächlich kein Meister der Verleugnung, er litt eher an einem Übermaß an Klarsicht, woraus sich auch sein Bedürfnis nach einem Betäubungsmittel erklären mochte – etwa jenem Glas Weißwein, das er gerade ausgetrunken hatte.
Hector nahm sich vor, in seinem Buch über ein neues Leben eine Bemerkung darüber zu machen: Übertreiben Sie es nicht mit Ihrem Scharfblick; ein wenig Verleugnung hilft beim Leben – oder besser noch, wenn Sie das hinbekommen, ein wenig Unterdrückung.
Robert wandte sich zum Kellner um und gab ihm ein Zeichen.
»Hast du nicht gesagt, morgens nie mehr als ein Glas?«
»Ja, du hast recht …« Und mit sichtlichem Bedauern stornierte er seine Bestellung wieder.
Wie die Therapie à la française weiterging
»Haben Sie schon mal den Kalbskopf mit Kräutersoße probiert?«
»Kalbskopf habe ich seit Jahren nicht gegessen«, sagte Hector.
»Ich kann ihn nur empfehlen«, meinte der alte François, »auch wenn es auf dem Teller etwas barbarisch aussieht – all dieses in Scheiben geschnittene Hirn …«
Sie saßen auf einer mit rotem Samt bezogenen Bank in einem Restaurant im Theaterviertel, diesmal also am rechten Seineufer. Der alte François hatte vorgeschlagen, dass sie sich zu einem gemeinsamen Abendessen trafen.
»Denken Sie nur – dieses Viertel war das Zentrum des Pariser Nachtlebens! All die Bühnen!«
»Ich gehe nie ins Theater«, sagte Hector.
»Ah, lieber Freund, da entgeht Ihnen etwas! Nach dem Krieg war ich jeden Abend hier – oder jedenfalls fast jeden. Manchmal spürte man im Zuschauerraum so eine gewisse Magie …«
Hector wusste, dass es diese Magie des Theaters wirklich gab, aber nach einem langen Arbeitstag in seiner Praxis war es ihm einfach zu viel, inmitten von lauter Menschen auf einem zu kleinen Klappsessel sitzen zu müssen. Bestimmt entging ihm etwas, aber das war schon wieder ein Zeichen dafür, dass er nicht mehr jung war – er akzeptierte es, dass ihm in den verbleibenden Lebensjahren eine Menge Dinge entgehen würden.
»Na gut. Wie geht es Ihnen denn, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?«
»Seit ich weniger Patienten empfange, bin ich nicht mehr so gereizt. Aber trotzdem habe ich den Eindruck, ziemlich am Ende meiner Kräfte zu sein. Ich habe immer noch Mühe, mich auf die Patienten zu konzentrieren …«
Der alte François nickte. »Vielleicht praktizieren Sie ja einen zu anspruchsvollen Therapiestil?«
Hector ließ sich das durch den Kopf gehen. Wahrscheinlich hatte der alte François recht. Im Studium hatte man Hector ziemlich methodische Therapien beigebracht, deren Ideal in einer langen Kette von guten Fragen bestand, mit denen man die Patienten mit fast sokratischer Methode dazu führte, ganz allmählich ihre Sichtweise und dann auch ihr Verhalten zu ändern. Das war zwar gründlich, aber auch anstrengend für den Therapeuten; man musste sich permanent konzentrieren, und oft hatte man den Eindruck, nicht die richtige Frage gestellt zu haben.
»Vielleicht ist es auch an der Zeit, dass Sie Ihre
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