Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
Palette erweitern? Eine Ausbildung in existenzieller Therapie? Leitung von Therapiegruppen? Ein Kurs in interpersoneller Psychotherapie? Die übrigens gar nicht weit von dem entfernt ist, was Sie ohnehin machen …« Während der alte François dies sagte, studierte er die Speisekarte, und es sah so aus, als würde er die Namen all jener Therapien von dort ablesen.
»Dialektisch-behaviorale Therapie? Hypnose nach Erickson?« Das waren recht gute Ideen, aber Hector blieb zögerlich. Plötzlich schoss ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf: »Ich könnte ja auch mit den Gesprächstherapien aufhören und mich mit der medizinischen Seite begnügen. Medikamente verschreiben, ein paar Hinweise geben …«
Nicht wenige seiner Fachkollegen hatten eine solche Wendung vollzogen: Zuhören, Rückhalt und Medikamente. So konnte man seine Einkünfte steigern, denn die Sitzungen dauerten nicht mehr so lange, und man konnte mehr Patienten pro Tag empfangen. Außerdem brauchten sie nicht so häufig wiederzukommen. Und die anstrengende Gesprächstherapie überließ man einem Kollegen, den die Leute noch nicht so ermüdet hatten, oft einem jüngeren.
»Selbstverständlich«, sagte der alte François und sah von der Speisekarte auf, »aber ich frage mich, ob das Ihnen gemäß wäre.«
Plötzlich fiel Hector auf, dass der alte François die Speisekarte ohne Brille las! Wo doch er selbst es schon nicht mehr ohne schaffte!
Und wieder hatte er den merkwürdigen Eindruck, dass sein alter Freund sich verjüngt hatte, gerade im gedämpften Licht dieses Restaurants, dessen Ausstattung sich seit der Belle Époque nicht verändert hatte. Auch die Kellner waren wohl noch so angezogen wie damals. Der alte François hatte Hector erklärt, dass dieses Restaurant, Le Petit Riche – ›Der kleine Reiche‹ –, für ihn tatsächlich reich an Erinnerungen an viele Soupers nach dem Theater war und dass er die intime und gemütliche Atmosphäre dieser Flucht von kleinen Salons liebte. Es war, als folgten viele kleine Restaurants aufeinander, und das Ganze wurde von Jugendstillampen erhellt.
»Hier habe ich das Gefühl, die Zeit wäre stehen geblieben.«
Hector fand, dass die Zeit für den alten François nicht stehen geblieben war, sondern dass sie begonnen hatte, rückwärtszulaufen. An diesem Abend hätte man meinen können, dass sich sein Kollege vom verkehrten Ende her auf die sechzig zubewegte – und dabei war er gute zwanzig Jahre darüber hinaus! Es war dermaßen erstaunlich, dass Hector nicht wagte, ihm dazu eine Frage zu stellen, denn er fürchtete sich fast vor der Antwort.
»Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass Ihre Müdigkeit wahrscheinlich auch von der Art der Beziehung herrührt, die Sie zu Ihren Patienten aufbauen. Andererseits haben Sie gerade dadurch so viel Erfolg.«
»Mag sein«, erwiderte Hector, »aber das kommt von innen heraus, es liegt sowohl an meiner Persönlichkeit als auch an meiner Ausbildung. Es wird schwierig sein, daran etwas zu ändern.«
Der alte François lächelte, und Hector spürte, dass er eine Idee im Hinterkopf hatte.
Der Kellner, ein junger Schnauzbärtiger, der ein Held aus Maupassants Büchern hätte sein können, brachte ihnen die Vorspeisen: Der alte François hatte einen Salat aus grünen Linsen und Speckwürfeln genommen. (Lag das Geheimnis der Verjüngung womöglich in den Linsen? Hector erinnerte sich, dass sein Freund schon im Lutetia welche zum Pot au feu bestellt hatte.) Hector selbst bekam burgundische Schnecken mit Knoblauch. Er wollte sehen, ob ihm dieses Gericht, das er seit seinem Medizinstudium nicht mehr gegessen hatte, immer noch schmeckte. Außerdem war Clara verreist, also war es nicht weiter tragisch, wenn er noch am Frühstückstisch nach Knoblauch roch.
»Ich glaube, mit den Jahren werde ich immer ungeduldiger«, sagte Hector. »In unserem Bereich vollziehen sich Veränderungen ja nur langsam. Außerdem sehe ich heute weniger Schwerkranke als früher, denn sie verteilen sich auf mehr Psychiater. Mit denen war es zwar anstrengend, aber niemals langweilig!« Er musste dabei an Roger denken.
»Und wenn Sie ans Krankenhaus zurückkehren?«, schlug der alte François vor. »Arbeit im Team und Patienten, die wirklich in Not sind?«
Hector hatte auch schon daran gedacht. Aber zunächst einmal hätte er bereit sein müssen, nur noch die Hälfte zu verdienen, und dann war er schon so lange aus dem Krankenhaussystem ausgeschieden – er hätte keine Chance
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