Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
mehr bereiten?«
»Doch. Ich glaube nicht, dass ich sie einfach so abschütteln kann, wie man eine schlechte Aktie abstößt. Ich werde natürlich Rückfälle haben, und dann werde ich wieder in Ihre Sprechstunde kommen. Aber derzeit vielleicht nicht. Können wir eine Pause einlegen, Doktor?«
Das passte Hector wunderbar, wurden durch Tristans Pause doch einige Termine für neue Patienten in inneren Nöten frei.
Aber an jenem Tag war Tristan sein letzter Patient, und nachdem er ihn zur Tür begleitet hatte, begann Hector seine E-Mails zu beantworten und versuchte sich dabei zu konzentrieren, während sein Körper angespannt auf das Klingeln von Ophélie wartete, mit der Hector essen gehen wollte – zu einem renommierten Italiener, bei dem er mit Clara noch nie gewesen war.
Später, es war schon Nacht, wurde Hector vom Summen seines Handys geweckt. Seine Tochter schickte ihm eine Nachricht.
Geht’s dir gut, Papa? Wollte dir bloß sagen, dass ich übernächsten Sonntag in Paris ankomme. Werde bei Mélanie wohnen. Ich ruf dich an, wenn ich da bin, ich möchte dich sehen. Liebe Grüße.
Als er den Blick wieder vom Display hob, sah er neben sich Ophélie, die mit dem Gesicht zu ihm lag; sie war vom Schlaf umfangen wie eine reizvoll ausgestreckte Nymphe auf einem mythologischen Gemälde, und plötzlich wurde Hector bewusst, dass er ein Verhältnis mit einer jungen Frau hatte, die nicht älter war als seine Tochter.
In dieser Nacht fand Hector keinen Schlaf mehr.
Hector auf dem Montmartre
Hector fuhr nicht oft nach Montmartre, außer wenn er Freunde begleitete, die in Paris zu Besuch waren. Dann nahm er einen Bus der Linie 95, der von der Rue de Rennes abfuhr und eine der schönsten Routen durch Paris einschlug. Wenn man am Pont du Caroussel den Fluss überquerte, erhaschte man einen kurzen, aber herrlichen Blick auf die Stadtlandschaft entlang der Seineufer. Zur Linken erhob sich der Eiffelturm, zur Rechten die Kathedrale Notre-Dame. Dann fuhr der Bus in den Hof des Louvre ein, ehe er dem Passagier die Pracht von Garniers Opernhaus darbot. Hector liebte auch das letzte Teilstück, wo der Bus auf einer Brücke über den Montmartre-Friedhof fuhr. Den Friedhof mochten sich seine Freunde normalerweise nicht anschauen; stattdessen wollten sie die Basilika Sacré-Cœur sehen, dieses große pseudobyzantinische Monument, das zu einer Zeit errichtet worden war, in der die Architekten, wie der alte François gesagt hätte, noch Achtung vor dem Kunstgewerbe gehabt hatten. Und natürlich wollten sie jenen berühmten Blick über Paris genießen, der sich von den Stufen vor der Kirche bot.
Hector selbst bevorzugte die Aussicht von der Terrasse des Musée d’Orsay, wo man zwar nicht so hoch über Paris stand, aber das eigentliche Herz der Schönheit dieser Stadt entdecken konnte – die Seine, den Louvre, die Tuilerien … und in der Ferne Sacré-Cœur auf ihrem Hügel. Die Freunde wollten dann meistens noch im reizenden ehemaligen Dorf Montmartre herumschlendern, wo so viele schlechte Maler gelebt hatten und auch ein paar richtig gute.
Es war Sonntagnachmittag, und Robert hatte Hector angerufen: »Können wir uns treffen? Es ist wichtig. Ich komme dich abholen.« Weil Ophélie zu Hause für eine Prüfung lernen wollte, hatte Hector leichten Herzens zusagen können.
Und jetzt saßen Hector und Robert auf den Gartenstühlen der Terrasse eines kleinen Cafés in Montmartre. Im Gastraum schauten zwei chinesische Touristenpaare verblüfft auf das Essen, das man ihnen gerade gebracht hatte. Sie hatten das Tagesgericht gewählt, Sauerkraut, und es dampfte noch auf ihren Tellern. Das Wetter war angenehm, auch wenn es weiterhin kühl blieb, und der Sonnenschein verlieh allem ein heiteres und jugendfrisches Aussehen – außer vielleicht Hector und Robert, die in Gedanken versunken dasaßen, während ringsum in den Bäumen die Tauben gurrten.
Zu seinen Füßen – denn der Reiz dieses Ortes lag in seinen steil abfallenden Straßen und Treppenfluchten – erblickte Hector einen Platz mit einem hübschen kleinen Hotel, dessen Fassade ganz mit Efeu bewachsen war. Es hätte als Kulisse für Ein Amerikaner in Paris dienen können, jenen Klassiker, den Hector und Ophélie am Abend zuvor in einem kleinen Kinosaal in der Rue des Écoles gesehen hatten. Selbst für Hector beschwor dieser Film schon eine ganz alte Welt herauf, in der Arbeiter und mittellose Künstler noch in Paris leben konnten, die Straßen gepflastert waren und
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