Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
verschweigen, sollte er lügen?
Oder war es besser, alles zu gestehen? Ach, übrigens, ich schlafe mit Ihrer Enkeltochter …
Er hatte das Vertrauen seines Freundes missbraucht, und das war unverzeihlich und nicht wiedergutzumachen.
Es war wundervoll, denn jede ihrer Begegnungen war wie eine erste Begegnung – wenn er auf Ophélie wartete und ihr Klingeln vernahm – wenn sie sich direkt vorm Kino verabredet hatten und er sie um die Straßenecke kommen sah – wenn sie nach ihm im Restaurant eintraf und alle Männer so taten, als würden sie nicht hinschauen, während die Frauen sie genau beäugten und Hector sodann einen vernichtenden Blick zuwarfen – wenn er in Ophélies Zimmer im einzigen Sessel saß und Zeitung las und sie sich plötzlich über ihn fallen ließ und ihn zu küssen begann – wenn sie ihn küsste und küsste und sich dann ein wenig nach hinten lehnte, um sein Gesicht zu betrachten, bevor sie ihn von Neuem küsste.
Es war bestürzend, denn er sagte sich, dass all diese wunderbaren Augenblicke letzten Endes nichts waren als die banale Geschichte eines Abenteuers zwischen einem Mann reiferen Alters und einer jungen Bewunderin.
Es war erhebend, weil …
Clara und Gunther
Gunther hatte Clara eingeladen, in seinem Club ein Glas mit ihm zu trinken. Zuerst hatte Clara gedacht, er wolle sie in einen Club mitnehmen, in dem er Mitglied war, einen jener Clubs, in denen sich überall auf der Welt die Reichen in entspannter Atmosphäre zusammenfinden, um zu essen oder die Zeitung zu lesen. Dass manche Clubs, um jede Rivalität oder Untreue auszuschalten, keine Frauen als Mitglieder aufnahmen und die Gattinnen nur zu bestimmten alljährlichen Ereignissen zugelassen waren, machte sie umso friedlicher.
Aber nein, Gunther sprach von seinem Jazzclub. Er war nämlich glücklicher Besitzer eines solchen Etablissements im Meat Packing District, einem ehemaligen Glasscherbenviertel. Damals hatte Gunther als gewiefter Geschäftsmann das Lokal zu einem Spottpreis erworben. Inzwischen war die ganze Gegend zu einem Szeneviertel avanciert, in dem sich Galerien für zeitgenössische Kunst, italienische und japanische Restaurants, Apple-Stores und Clubs wie der von Gunther aneinanderreihten.
Dann hatte Clara gedacht, Gunther würde diesen Club als eine Art Hobby betreiben, um sich von seiner Arbeit als Leiter des New Yorker Hauptsitzes eines internationalen Unternehmens zu entspannen. Aber auch da täuschte sie sich.
»Das ist für mich vorbei«, erklärte Gunther. »Es interessiert mich nicht mehr. Und Jazz habe ich schon immer geliebt.«
Clara erinnerte sich daran, dass Gunther selbst als Firmenchef manchmal mit schöner Bassstimme die großen Jazzklassiker gesungen hatte, womit er das junge Ding, das sie damals gewesen war, hatte bezaubern können.
»Heute bin ich viel glücklicher«, sagte Gunther lächelnd.
Clara spürte aber auch, dass in dieser Feststellung ein wenig Aufschneiderei lag.
Sie hatte es noch nie erlebt, dass ein dominantes Männchen freiwillig auf die Macht verzichtet hätte. Es gab sie erst preis, wenn es herausgedrängt wurde – wenn ein schlaueres oder wilderes Männchen sich gegen es durchgesetzt hatte.
Und doch schien Gunther tatsächlich zur Ruhe gekommen zu sein, er zeigte nicht mehr jene Anspannung, die früher pausenlos in ihm gesteckt hatte, die Anspannung eines Mannes, der immer auf der Hut war und immer bereit, einen Schlag zu parieren oder selbst auszuteilen. Ob er glücklich war, konnte sie nicht sagen, aber auf jeden Fall war er entspannter und hatte auch mehr Sinn für Humor als früher – damals war Humor überhaupt ein Fremdwort für ihn gewesen.
Und letzten Endes war er jetzt auch verführerischer, zumindest für die Frau, die Clara inzwischen geworden war.
»Schau doch gegen acht vorbei, da ist es noch nicht so voll«, sagte Gunther, als sie gemeinsam aus dem Deli in die kühle Morgenluft traten. »Dann können wir ja entscheiden, ob wir zu Abend essen wollen …«
Clara sah in Gunthers Augen, dass er sie noch immer bewunderte, sie entdeckte sogar Liebe darin, und es war für sie wie ein angenehmer und warmer Mantel.
Danach musste sie an Hector denken, an ihre Telefongespräche der letzten Tage, bei denen er seltsam abwesend gewirkt hatte.
»Ich habe wieder mehr zu arbeiten angefangen«, hatte er erklärt.
Da hatte sie sich noch gesagt, dass sie sich weigern würde, noch einmal zwei Wochen länger zu bleiben.
Aber trotzdem beschloss sie, die
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