Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
blieb auf seinem Stuhl sitzen und wartete auf den nächsten Patienten, der sich zum Glück ein wenig verspätet hatte. Aber natürlich konnte er auch Ophélie als seinen neuen Kontinent betrachten, und ein Erdbeben war sie sowieso …
Hector, der alte François und die moderne Kunst
Ophélie hatte ihm für diesen Abend eine Einladung zu der Vernissage eines zeitgenössischen Künstlers in einer Galerie an der Place des Vosges gegeben. Eine Freundin arbeitete dort, und so war sie an die Einladungen gekommen. Der Künstler war das, was man einen internationalen Star nannte; man konnte seine Werke in den Kunstmagazinen sehen, die in den Wartezimmern richtig teurer Fachärzte herumlagen. Es war also ein ziemlich mondänes Ereignis.
Hector hatte sich gewundert. Wollte Ophélie, dass man sie für ein Paar hielt? Strebte sie einen Fortschritt in ihrer Beziehung an – vom ersten Kuss ins Bett, vom Bett an den Strand und ins Restaurant und jetzt unter aller Augen? Aber eine zweite Nachricht beruhigte ihn wieder. Ophélie würde schon vor der Vernissage in der Galerie sein, um ihrer Freundin zu helfen. Er sollte später dazukommen, wenn er Feierabend hatte. Sie würden also nicht gemeinsam hingehen.
Hector dachte auch an seine Tochter, die in wenigen Tagen in Paris ankommen wollte. Er verspürte den absurden Wunsch, sie Ophélie vorzustellen. Ein Teil von ihm wäre glücklich gewesen, wenn sich die beiden jungen Frauen unterhalten hätten; sie waren dafür geschaffen, gut miteinander zurechtzukommen. Aber natürlich ging das nicht.
Als er zur Place des Vosges kam, dämmerte es schon. Der Platz breitete vor ihm seine wunderbare quadratische Symmetrie aus, seine seit vier Jahrhunderten unveränderten Fassaden aus Backstein und Kalkstein, seine perfekt ausgerichteten Arkaden. Es war eine Kulisse, die Hector bei hellem Tageslicht beinahe bedrückend fand in ihrer Perfektion.
Abends jedoch, wenn hinter den Fenstern, die aus kleinen quadratischen Scheiben zusammengesetzt waren, die Lampen angingen, wurde der Platz richtig gemütlich, und man hätte sich ausmalen können, dass in den Salons noch immer Renaissancefeste stattfanden.
»Na, lieber Freund, was halten Sie davon?«
Hector hatte nicht damit gerechnet, dem alten François zu begegnen, aber war es nicht normal, dass Ophélie auch ihren geliebten Großvater eingeladen hatte? Sie standen neben einer Skulptur, die eine auf eine Gabel gespießte Wurst darstellte, vollkommen realistisch und keineswegs ungewöhnlich, außer dass das Ganze gut und gern drei Meter hoch war.
»Ich finde es nicht sehr … nicht sehr berührend«, sagte Hector.
»Stimmt!«, sagte der alte François. »Mir geht es genauso. Aber man wird Ihnen erklären, dass die zeitgenössische Kunst – von der heutigen Musik ganz zu schweigen – auch gar nicht dazu da ist, uns zu berühren; sie soll uns eindringlich befragen, zum Nachdenken bringen, aufstören, zur Teilnahme bewegen und überraschen (obwohl Überraschung vielleicht doch eine unserer Grundemotionen ist, wenn sich auch Darwin nicht ganz sicher war). Und manchmal soll sie uns sogar lächerlich machen, weil wir imstande sind, so ein Werkchen zu bewundern …«
Der alte François war genauso gut in Form wie die vergangenen Male, er sprach mit der Verve eines jungen Mannes, und Hector fiel auf, dass er nicht umhinkonnte, den langen Beinen und hohen Absätzen der schönen Frauen, die nahe an ihnen vorbeigingen, einen kurzen Blick hinterherzuschicken. Die Begleiter dieser Damen waren oft schon einige Jahre älter, aber genauso elegant, gut gekleidet und frisiert, und sie hatten die so umgängliche wie selbstsichere Art von Leuten, die schon seit Langem nicht mehr damit rechnen, dass ihnen jemand widerspricht. Bestimmt waren es potenzielle Kunden.
Aber wie Ozeankreuzer, die durch eine Flotte aus kleinen Schiffchen steuern, mischten sich diese Paare mit ebenso zahlreichen jungen Leuten, die aus der Kunstwelt kamen, aber sich keines dieser Werke kaufen konnten – Journalisten, junge Künstler und Galeristen, die eine zerzaustere, buntscheckigere und fröhlichere Menge bildeten.
»Eigentlich kann man die Kunst noch immer als soziale Praxis betrachten«, sagte der alte François, »und doch frage ich mich, ob ich nicht eher den Geschmack der Renaissancefürsten teile als den der russischen oder chinesischen Oligarchen, die zeitgenössische Kunst kaufen, um ihre Milliardärsfreunde zu beeindrucken und den Anschein zu erwecken, dass sie nicht
Weitere Kostenlose Bücher