Heidegger - Grundwissen Philosophie
wechselseitig. Und ein einzelnes Subjekt kann eben keiner Regel folgen. Dazu bedarf es immer schon eines weiteren Subjekts. Denn wenn A einer Regel folgt, so folgt A ihr immer nur dann, wenn B derselben Regel folgt. Im Begriff der Regel [104] ist impliziert, daß das, was A seiner Orientierung zugrunde legt, im Wandel identisch bleibt. Das heißt aber, es muß mindestens ein weiteres Subjekt B geben, das überprüfen kann, ob A im gegebenen Fall auch wirklich der Regel folgt. Und genau darum »ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ›privatim‹ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen.« 54 Und genau diese gemeinsame Orientierung an einer intersubjektiven Praxis kann Heidegger durch die Orientierung am »je
eigenen
Dasein« nicht garantieren.
So wie das Problem der Intersubjektivität unter den angenommenen Prämissen eines Daseins, das sich nur in der Einsamkeit authentisch auf seine Möglichkeiten entwerfen kann, nicht zu lösen ist, so ist auch die Identität der sprachlichen Bedeutungen für Heidegger nicht zu erklären, die sich in der Mannigfaltigkeit ihrer jeweiligen sprachlichen Realisierungen als eine Identität im Wandel durchhält. Denn die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke läßt sich nicht, wie Heidegger es versucht, mit einer »Humpty-Dumpty-Auffassung« 55 der Sprache plausibel machen, sondern nur mit Bezug auf die Regelstruktur der Sprache. Heidegger erkennt das in der Folge. Er erkennt, daß das Dasein zu guter Letzt gezwungen ist, dem Rückzug des Seins aus der defizitären Verständigungspraxis des Alltags ohnmächtig zuzusehen. Und er erkennt, freilich ohne sich von der »Humpty-Dumpty-Auffassung« zu lösen, daß das Problem der Intersubjektivität unter fundamentalontologischen Prämissen nicht gelöst werden kann. Darum versucht er, auf ontologisch noch tiefere Fundamente zurückzugreifen. Diese Fundamente sind aber innerhalb des Daseins, wie es in
Sein und Zeit
konzipiert ist, nicht aufweisbar. Zwar wurde das erzeugende Subjekt aus dem Reich des Intelligiblen herausgeholt und in die Dimension der Lebenswelt hineingestellt, zwar wurde die Subjektphilosophie, indem die transzendentale Fragestellung einen ontologischen Sinn erhielt, durch die tiefergreifende Begrifflichkeit einer [105] transzendental verfahrenden Existenzialontologie überwunden, die mit dem Begriff der »Erschlossenheit« die Ermöglichungsbedingungen der Prädikation thematisch machen wollte. »Jedoch gerade die konkreten Analysen der Erschlossenheit in
Sein und Zeit
, in welchen diese in ihrer ›Endlichkeit‹ herausgestellt wird, mußten zu der Erkenntnis führen, daß das Dasein die Begründungsfunktion, die ihm hier noch transzendental-philosophisch zugemutet wurde, nicht mehr tragen kann. Die nachherige ›Kehre‹ ist von vornherein im Sachgehalt der neuen Problematik enthalten.« 56
In seiner Spätphilosophie sucht Heidegger darum nach einer Alternative, um aus der »fundierenden Kommunikationslosigkeit« des Daseins herauszukommen. 57 Nicht mehr aus dem Dasein, sondern aus dem Sein will er nun philosophieren. Er spricht jetzt dem Sein, nicht mehr dem Dasein die welterschließende Kraft zu. Damit wird das Problem der Intersubjektivität gegenstandslos. Allerdings waltet jetzt dafür im grammatischen Wandel der sprachlichen Weltbilder das Sein. Die sinnschöpfende Potenz der Sprache, der Sprache als
poesis
, erhält damit den Rang eines mystischen Absoluten. Heidegger glaubt die Theorie durch Poetisierung retten zu können; er sucht mit Hölderlin elementare und damit unverbrauchte Urworte zu isolieren, mit denen er nicht nur hinter die Metaphysikgeschichte zurückgreifen kann, sondern auch noch die Fundamente der Sprache freilegen will, die vor aller Vermittlung liegen. Damit teilt er auf eigenartige Weise jene »krude Vorstellung von der Archaik der Sprache«, der sich auch Carnap, sein positivistischer Widerpart, nicht entringen konnte. Freilich mit dem Unterschied, daß dieser die Archaik als Rückstand beklagt, wohingegen jener sie als Segen preist. 58
[106] Wahrheit und Welterschließung
Mit der Radikalisierung der neuzeitlichen Grundlagendiskussion wurde es Heidegger durch den Rückgang auf das alltägliche In-der-Welt-Sein möglich, eine der Reflexionsphilosophie unzugängliche Thematik zu entfalten: die Thematik der Erschlossenheit. Im folgenden sollen nun jene
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