Heidelberger Lügen
Gestalt öffnete Anne Hörrles Gartentörchen und humpelte auf dem Kiesweg zur Haustür. Überlaut hörten wir knirschende Schritte, Schnaufen und Ächzen. Es schien ein älterer Mann zu sein, der da vor Anne Hörrles Haus stand und die Hand hob. Aus den Lautsprechern schrillte die Klingel. Nichts rührte sich. Der späte Freier drückte ein zweites und drittes Mal auf den Knopf. Schließlich gab er auf und verzog sich, Flüche grummelnd und nicht ahnend, dass ihm drei Männer mit höchster Aufmerksamkeit zuhörten.
»Sie steht am Fenster«, sagte Runkel. »Sehen Sie, da.«
Die Körperwärme einer Person hinter einem der Fenster im Obergeschoss erzeugte einen verwaschenen, grünlich schimmernden Fleck auf dem Monitor.
»Warum lässt sie ihn nicht rein?«, fragte sich Balke. »Warum lässt sie sich den Job entgehen?«
»Vielleicht hat er beim letzten Mal nicht bezahlt«, meinte der junge Techniker, der auf einmal wieder wach war. »Oder er ist ein Perverser.«
Runkel hockte auf seinem Klappstuhl und starrte auf den Bildschirm. Nach einer Weile verschwand die Wärmequelle, und das Haus sah wieder so unbewohnt aus wie zuvor.
»Wie groß ist eigentlich diese Tante?«, fragte Runkel.
»Keine Ahnung«, antwortete Balke gelangweilt. »Wieso?«
»Ich weiß ungefähr, wie hoch die Stockwerke in diesen Häusern aus den dreißiger Jahren sind. Ich hab nämlich selber so eins. Und die Frau, die ich da am Fenster gesehen hab, die war mindestens einsneunzig groß.«
Für einen langen Augenblick sahen Balke und ich uns an.
»Das kann nicht sein«, keuchte er dann. »Er kann unmöglich schon hier sein! Zwanzig Kilometer!«
»Wann genau hat dieser Zahnarzt Hörrle gesehen?«
»Um halb fünf. Ich hab am Abend nochmal mit ihm gesprochen. Zwischen sieben und halb acht wird es hell. In der Zeit schafft auch Hörrle keine zwanzig Kilometer zu Fuß.«
»Wo steht dieser Hochsitz nochmal, sagten Sie?«
»In der Nähe von Brom …« Plötzlich wurde Balkes Gesicht lang. Er nahm das Handy vom Tisch und wählte mit fliegenden Fingern. Zum Glück war der Zeuge noch wach.
Als Balke auflegte, waren wir klüger. Der Fehler war dem Kollegen unterlaufen, der die Aussage des Zahnarztes protokolliert hatte. Unser Zeuge wohnte zwar in Brombach, sein Jagdrevier lag jedoch westlich von Wilhelmsfeld, nicht einmal acht Kilometer von hier.
»Und nun?« Balke knallte das Handy auf den Tisch, als wollte er es nie wieder in die Hand nehmen. »Was nun?«
»Nachdenken.« Ich lehnte mich zurück, so gut es in dem engen Kasten ging, und versuchte tief zu atmen. »Aus dem Überraschungseffekt wird nun nichts mehr. Inzwischen hat Hörrle sich prächtig ausgeschlafen und das Haus verbarrikadiert.«
»Aber was ist mit der Frau?«, fragte Runkel.
»Ganz einfach«, erwiderte Balke unwirsch. »Wenn sie drin ist, dann hat er eine Geisel, ist sie es nicht, hat er keine.« Er schnaufte wütend. »Ich schlage vor, wir stürmen die Hütte. Diese Nacht noch. In zwei Stunden haben wir das SEK hier und schlagen los. Je länger wir warten, desto gefährlicher wird es.«
Die beiden sahen mich erwartungsvoll an. Das war das, was ich neben der Schreibtischarbeit am meisten hasste an meinem neuen Job: Wenn es brenzlig wurde, dann war es an mir, Entscheidungen zu treffen und die Schuld auf mich zu nehmen, falls es schief ging. Ging es gut, dann waren es in der Regel die Rambos vom Sondereinsatzkommando, deren vermummte Heldengestalten man im Fernsehen bestaunen durfte.
Aber in diesem Fall fiel mir die Entscheidung leicht. »Solange wir nicht sicher sind, wo die Frau steckt, verhalten wir uns still«, entschied ich. »Ich will hier kein Blutbad erleben.«
Kurz nach eins zog draußen ein Trupp betrunkener junger Männer vorbei. Einer der Burschen blieb stehen und pinkelte, nach den Geräuschen zu schließen, an unser Hinterrad, ohne zu ahnen, wie nah er in diesem Augenblick einer polizeilichen Gewaltmaßnahme war. Dann torkelten sie lautstark weiter. Eine Bierdose schepperte über den Platz, es wurde wieder ruhig.
»Mir ist eine Idee gekommen«, murmelte Runkel. »Wie der da draußen …«
»Da bin ich aber gespannt.« Balkes Stimme strafte seine Worte Lügen.
»Wir haben doch schon ein paar Mal gehört, dass im Haus wer aufs Klo gegangen ist.«
Balke gähnte demonstrativ. »Richtig.«
Ich nickte Runkel aufmunternd zu.
»Ich geb ja zu, es klingt ziemlich blöd«, fuhr er unbehaglich fort. »Aber ein Mann pinkelt doch normalerweise anders als eine
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