Heidelberger Requiem
unterstrich, und war ziemlich außer Atem, als er in sein Büro kam und sich als Erstes die Hände wusch. Eine gute Viertelstunde hatte ich warten müssen. Die Chefvisite habe wieder einmal länger gedauert als vorgesehen, erklärte er mir verbindlich lächelnd. Und sein nächster Termin sei in zehn Minuten.
Sorgfältig trocknete er sich die Hände ab und wandte sich endlich mir zu. Sein Händedruck war überraschend kräftig und sein Lächeln ehrlich.
»Tut mir Leid, dass Sie warten mussten, Herr Gerlach. Aber unsere Arbeit lässt sich nun mal nicht so planen wie eine industrielle Produktion. Hier haben wir es mit Menschen zu tun, und die funktionieren leider Gottes nicht wie Maschinen.«
»Das ist bei uns nicht anders«, erwiderte ich. Ein wenig hatte ich mich vor diesem Gespräch gefürchtet, vor dem Zusammentreffen mit einem Mann, dem ich in keiner Weise das Wasser reichen konnte. Aber er ließ mich seine Überlegenheit nicht spüren.
»Was kann ich also für Sie tun?«
»Nun …«, begann ich.
Er fiel mir ins Wort. »Sie wollen von mir hören, wer meinen Sohn getötet hat? Da fragen Sie leider den Falschen. Er hat seit langem sein eigenes Leben gelebt. Wir hatten nur noch wenig Kontakt. Haben Sie selbst Kinder?« Sein Pieper gab Signal. Stirnrunzelnd warf er einen Blick darauf und drückte eine Taste.
»Töchter. Aber sie sind jünger als Ihr Sohn.«
Er nickte anerkennend. »Sie werden das auch erleben. Erleben müssen. Unsere Kinder gehen irgendwann eigene Wege. So ist der Lauf der Welt. Was unsere Erziehung bis zum zwölften Lebensjahr nicht erreicht hat, werden wir nie erreichen, das ist meine Überzeugung.« Er warf einen Blick auf die große Uhr über der Tür. »Ist das immer ein Drama, wenn man mal ein paar Tage weg ist«, murmelte er und blickte mich auffordernd an in der offensichtlichen Erwartung, dass wir nun am Ende wären.
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann kennen Sie also niemanden aus dem Bekanntenkreis Ihres Sohnes?«, fragte ich demonstrativ entspannt.
»Das haben Sie durchaus richtig verstanden.« Er stellte das leere Glas wieder auf das Tablett.
Ich berichtete ihm von Gardeners Festnahme. »Haben Sie eine Idee, weshalb er es getan haben könnte? Einen Verdacht, mag er Ihnen noch so absurd erscheinen? Was mir immer noch fehlt, ist das Motiv.«
Grotheer stützte die Ellenbogen auf die Knie, legte das Gesicht in die Hände und schwieg zwei Sekunden. Dann sah er mir von unten in die Augen.
»Sie wissen über diese Dinge vermutlich schon jetzt mehr als ich, Herr Gerlach. Sie wissen, dass mein Sohn in Drogengeschäfte verwickelt war. Dass er damit viel Geld verdient hat, oder sagen wir besser: eingenommen. Dass er somit in kriminellen Kreisen verkehrte. Wenn ich Ihre Worte richtig verstehe, dann gilt das alles für Fitzgerald ebenso. Was also bezwecken Sie mit dieser Frage?«
»Das Motiv könnte mit Dingen zu tun haben, die weit zurückliegen. Und schließlich könnte der Mörder auch aus einem ganz anderen Umfeld kommen. Bisher leugnet er die Tat hartnäckig. Und der erste Verdacht ist nicht immer der richtige.«
»Das predige ich meinen Studenten auch immer.« Seine Finger spielten auf der Stuhllehne Klavier. »Sprechen Sie mit meiner Frau«, sagte er schließlich. »Ich habe Patrick seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Sie schon. Sie hat immer wieder versucht, ihn zu erreichen, zur Vernunft zu bringen, zurückzuholen. Es gelang ihr nicht.«
Plötzlich sprang er auf. »Ich nehme an, wir sind fertig? Falls Sie weitere Fragen haben, jederzeit. Vielleicht lässt sich das eine oder andere telefonisch klären? Meine Sekretärin weiß immer, wo ich gerade stecke.«
Sein Händedruck war wirklich ungewöhnlich kräftig. Er musste irgendeine Art von Sport betreiben, Tennis vielleicht. Zusammen mit der Art, wie Grotheer einem dabei in die Augen sah, übertrug dieser Händedruck Zuversicht und Vertrauen. Ich konnte mir vorstellen, dass er allein dadurch selbst in einem Todkranken wieder Hoffnung weckte.
Als ich seine gepolsterte Bürotür hinter mir ins Schloss zog, war es genau halb zwölf. Jetzt kam der angenehme Teil meines Besuchs. Marianne Schmitz saß mit übereinander geschlagenen Beinen und offenem Kittel in ihrem Büro und studierte Patientenakten. Heute wirkte sie nicht ganz so frisch wie am Montag. Aber als sie aufsah, lächelte sie. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich reichte ihr die Hand.
»Und? Haben Sie ihn schon?«, fragte sie leichthin und legte den
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