Heidelberger Requiem
mich immer noch weigerte, in dieser alten Geschichte eine ernst zu nehmende Spur zu sehen.
»Jahrelang sei das gegangen mit den Prozessen, sagt die Gerda. Richtig verrückt sei der geworden. Und drum ist er dann auch versetzt worden. Weil einfach nichts mehr anzufangen war mit ihm.«
»Wohin?«
Sönnchen hob die Schultern. »Dafür bräuchten wir jetzt halt die Personalakte, gell?«
Ich stützte den Kopf in die Fäuste. Wie viele Menschen hatten wohl in den letzten Jahren und Jahrzehnten Kinder verloren, ohne deshalb irgendwann Amok zu laufen? Konnte eine Geschichte, die so lange zurücklag, ein Motiv für zwei Morde sein? Und vor allem, wo war der Zusammenhang?
»Ach ja, das hätt ich ja beinah vergessen«, fuhr sie fort. »Dieser Arzt, mit dem der Krahl damals so lange rumgestritten hat, der hat Grotheer geheißen. Komisch, nicht? Meinen Sie, es gibt noch mehr Ärzte, die Grotheer heißen?«
Ich griff zum Hörer.
»Wen rufen Sie an?«, fragte sie.
»Jemand muss mir sofort alles an Material zusammentragen, was aufzutreiben ist. Presseartikel, Prozessakten, alles.«
»Darf ich das machen?« Sie war schon auf den Beinen. »Ich kenn da nämlich den Ferdi, der schafft bei der Zeitung. Wir sind im gleichen Tennisverein. Manchmal spiel ich gemischtes Doppel mit dem. Wir verlieren zwar immer, aber der hilft mir sicher trotzdem.«
»Wie lange werden Sie brauchen?«
»Bis Mittag. Der Ferdi, der ist ein Fuchs.«
Ich legte den Hörer wieder auf.
19
Wie versprochen, erschien meine Sekretärin nach dem Mittagessen mit einem Packen Papier unterm Arm. Bei ihrem Strahlen wurde mir klar, dass mein Vorgänger sie nicht nur wegen ihres Vornamens Sönnchen genannt hatte. Sie breitete alles vor mir aus.
»Also«, begann sie. »Das ist damals nämlich so gewesen.«
Alles hatte mit einem Fußballspiel begonnen. Uwe Krahl, damals erster Torwart des FC Ladenburg, war mit einem gegnerischen Stürmer zusammengeprallt und dabei so unglücklich gestützt, dass er sich einen Leberriss zuzog. Nach einer Notoperation in der chirurgischen Universitätsklinik schien er schon wieder über den Berg zu sein. Aber in der dritten Nacht nach dem Eingriff war er unter nie ganz geklärten Umständen überraschend verstorben, obwohl man ihn bereits wieder von der Intensivstation in ein normales Krankenzimmer verlegt hatte.
Volker Krahl beschuldigte von Anfang an den Oberarzt Franz Grotheer, der in jener Nacht für die Station zuständig gewesen war. Es hatte wüste Szenen gegeben und schließlich einen Prozess, den Krahl durch drei Instanzen gezogen und immer wieder verloren hatte. Sönnchen zeigte mir alte Zeitungsartikel mit Fotos. Innerhalb weniger Jahre war aus einem sportlichen, vielleicht ein wenig verbissen dreinschauenden Enddreißiger ein alter Mann geworden, nahezu völlig ergraut, mit scharfen Gesichtszügen und missgünstigen Augen. Einer von denen, die sich von der ganzen Welt verraten fühlen.
Zwei Jahre nach dem Tod seines Sohnes war er zum Polizeiposten Mosbach versetzt worden. Daraufhin hatte er seinen ehemaligen Vorgesetzten verklagt und war schließlich aus dem Polizeidienst ausgeschieden. Auf eigenen Wunsch, wie es in solchen Fällen heißt.
Und während seines langsamen Absturzes hatte sein Widersacher Grotheer ebenso unaufhaltsam Karriere gemacht.
»Wo wohnt er jetzt?«, fragte ich.
»Das ist ja das Komische, das weiß keiner. In der Stadt jedenfalls nicht. Also, offiziell gemeldet ist er hier nicht.«
»Das haben Sie auch schon überprüft?«, fragte ich verdutzt.
»Ich kenn doch die Valerie im Meldeamt. Wir sind im gleichen Turnverein.«
Diese kleineren Städte boten offenbar auch aus fahndungstechnischer Sicht allerhand Vorteile.
»Ihr Termin beim Augenarzt, der ist übrigens morgen Abend um sechs. Das ist Ihnen doch recht?«
»Sind Sie eigentlich verheiratet, Sönnchen?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf und verschwand eilig. Ich trat ans Fenster und schob die Hände in die Taschen. Wie sollte es nun weitergehen? Ich konnte Krahl wohl kaum zur Fahndung ausschreiben lassen, nur weil er vor Jahren gegen Grotheer prozessiert hatte. Finden und befragen musste ich ihn dennoch. Aber wie? Sollte ich das BKA mit der Sache behelligen und mich womöglich lächerlich machen? Die Meldeämter sämtlicher Gemeinden in der Umgebung abklappern in der Hoffnung, dass er nicht allzu weit weggezogen war?
Später kam Vangelis. Ich erzählte ihr die Geschichte.
Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie die Zeitungs-Fotos.
Weitere Kostenlose Bücher