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Heidelberger Requiem

Heidelberger Requiem

Titel: Heidelberger Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Burger
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nicht.«
    Sie schenkte sich Tee nach. Stellte die Kanne sorgfältig ab. Fast, als wollte sie Zeit gewinnen.
    »Eine simple Rechenaufgabe. Wir brauchten vier OPs und hatten nur drei. Die Frau hatte eine Überlebenswahrscheinlichkeit von vielleicht zehn Prozent, wenn wir weiter operiert hätten. Der schwerste Fall von den anderen vier hatte eine deutlich höhere. Und deshalb habe ich beschlossen, diese Frau sterben zu lassen, verstehen Sie? Ich habe sie in den Tod geschickt. Mit Absicht und im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte. Um einen anderen zu retten, der größere Chancen hatte als sie. Vielleicht, mit ganz viel Glück hätte sie überlebt. Aber der andere hatte die Statistik auf seiner Seite, die höhere Wahrscheinlichkeit.« Sie schwieg lange. Vom Flur hörte ich gedämpfte Stimmen, eilige, weiche Schritte, rollende Geräusche, von einem Krankenbett vielleicht. »Natürlich weiß das niemand außerhalb. Die Angehörigen werden bis in alle Ewigkeit glauben, dass wir alles für die arme Frau getan haben. Haben wir aber nicht. Ich musste mich entscheiden, und ich habe es getan. Ich habe mich gegen sie entschieden. Und jetzt können Sie mich wegen unterlassener Hilfeleistung verhaften. Oder wegen Totschlags meinetwegen. Oder ist das Mord? Wollen Sie es Mord nennen?«
    Ich wusste nichts zu antworten.
    »Man fühlt sich nicht so toll nach einer solchen Sache, das können Sie mir glauben. Wir machen das weiß Gott nicht gerne. Aber wir machen es ständig. Spielen uns auf zu Herren über Leben und Tod. Die Triage. Der Fluch der Notfall-Mediziner.«
    »Triage?«
    Wieder nahm sie einen Schluck aus ihrem Becher. »Wenn Sie als Arzt zu einem großen Unfall kommen, einem Flugzeugabsturz zum Beispiel, mit Toten und zig Verletzten, dann machen Sie die Triage. Sie teilen die Verletzten in drei Gruppen ein. Die erste, das sind die Leichtverletzten. Die können sich selbst oder gegenseitig helfen, um die kümmern Sie sich nicht. Die dritte Gruppe, die sind so schwer verletzt, dass ihnen vermutlich sowieso niemand helfen könnte. Die lassen Sie ebenfalls liegen. Aber die mittlere Gruppe, da können Sie helfen. Da können Sie Leben retten. Die anderen, die schweren, die lässt man sterben, weil man muss. Weil einem gar nichts anderes übrig bleibt. Vielleicht könnten Sie unter Einsatz aller Kräfte einen oder zwei von ihnen retten. Aber in der Zwischenzeit würden Ihnen fünf oder zehn der mittleren Gruppe wegsterben, denen Sie problemlos hätten helfen können. Sind Sie deshalb schuldig am Tod dieser anderen, denen Sie nicht geholfen haben? Sind Sie deshalb ein Mörder?«
    »Natürlich nicht«, erwiderte ich heiser.
    »Man fühlt sich hinterher aber so. Das ist die – entschuldigen Sie – Scheiße an unserem Job. Ein paar wenige können wir retten. Zu viele bleiben auf der Strecke.«
    »Und was war nun mit Krahls Sohn?«
    Sie legte ihre schmale, kräftige Hand auf die Akte.
    »Er war frisch operiert und lag auf der Intensivstation zur Überwachung. Das ist normal. Zwei, drei Tage legen wir sie nach so einem schweren Eingriff auf Intensiv. Aber dann wurde es auf einmal eng. Grotheer brauchte ein Intensivbett für einen kritischen Fall. Er hat Krahl auf die Station verlegen lassen, weil es ihm von den Intensivpatienten am besten ging. Irgendwann in der Nacht haben dann innere Blutungen eingesetzt, so was passiert manchmal nach Leberoperationen. Er ist verblutet, im Schlaf. Ganz langsam. Er ist vermutlich nicht mehr aufgewacht.« Mit flammendem Blick sah sie auf. »Natürlich hat die Station gepennt! Natürlich hätte das nicht passieren dürfen. Aber er hat richtig gehandelt, verstehen Sie? Ich hätte es genauso gemacht, jeder vernünftige Arzt dieser Welt hätte dasselbe getan, verstehen Sie?«
    Sie schwieg lange. »Schuld!«, stieß sie dann hervor. Und wiederholte das Wort, wie um sich an den Klang zu gewöhnen: »Schuld.«

20
    Ich diktierte meine Anweisungen: Wo hatte Krahl damals gewohnt? Gab es ehemalige Nachbarn, die sich noch an ihn erinnerten? Lebten irgendwo Verwandte, die etwas über seinen derzeitigen Aufenthaltsort wussten? Wo hatte er später gelebt, nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst? Wann und wo verlor sich seine Spur?
    Balke blieb zurück, als die anderen gingen. Er hielt einen kleinen Block in der Hand. »Chef, ich hab da was.«
    Ich wies auf einen Stuhl, er setzte sich wieder.
    »Sie erinnern sich doch an diese Stiftung in Lausanne? Diese Fontation pour irgendwas?«
    Ich nickte fragend.
    »Der

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