Heidelberger Requiem
»Warum nehmen wir nicht diese Bilder und fahren in die Klinik damit?«, schlug sie vor. »Dann wissen wir immerhin, ob es sich überhaupt lohnt, ihn zu suchen.«
Es ist nicht besonders schön, als Chef vor einer Untergebenen wie ein Trottel dazustehen.
Auf der Treppe traf ich meine Töchter in Begleitung zweier junger und sichtlich blendend aufgelegter uniformierter Kollegen. Sie unterhielten sich angeregt und grüßten mich kaum.
Unsere Zeugen waren geteilter Meinung. Genau die Hälfte der acht Personen, denen wir in der Klinik die Zeitungsausschnitte vorlegten, war absolut sicher, in Volker Krahl den verschwundenen Hausmeister wiederzuerkennen. Die andere Hälfte war sich ebenso sicher, dass er es nicht war.
»Reden wir doch noch ein paar Takte mit dem Professor, wo wir schon mal hier sind. Würde mich interessieren, was er von der Geschichte hält«, entschied ich.
Aber Professor Grotheer war wieder einmal nicht im Haus, Er war zur Beerdigung seiner Kinder, die ich schon wieder vergessen hatte, auf dem Handschuhsheimer Friedhof. Und anschließend würde er verreisen, erfuhr ich von seiner Sekretärin, zu einem sehr wichtigen Kongress, in Budapest diesmal.
»Frau Doktor Schmitz wäre im Haus. Könnte die Ihnen vielleicht weiterhelfen?«
Ich schickte Vangelis los, um noch möglichst vielen weiteren Angestellten der Klinik unsere Bilder zu zeigen. Sie verschwand kommentarlos, aber ich glaubte ihrem Rücken anzusehen, dass sie grinste.
Dieses Mal setzten wir uns in Marianne Schmitz’ Büro an den runden Tisch, der heute leer war. Offensichtlich hatte sie aufgeräumt.
»Alle paar Wochen packt mich der Koller«, sagte sie mit müdem Lächeln. »Dann wird eine Nacht lang Papier sortiert und abgeheftet und das meiste weggeschmissen. Anders geht das bei mir nicht. Ich bin eine Quartals-Aufräumerin, wenn Sie so wollen. Einfach so Ordnung halten ist nicht mein Ding.«
Wir hatten so unglaublich viel gemeinsam.
Sie ließ mir einen Kaffee bringen und füllte ihren Becher mit dem unvermeidlichen Tee.
Einmal mehr erzählte ich Krahls Geschichte. Sie hörte aufmerksam zu und sah mir über ihren Becher hinweg unentwegt in die Augen, während sie in vorsichtigen Schlucken ihren heißen Tee schlürfte.
Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Als ich geendet hatte, griff sie zum Telefon und verlangte Uwe Krahls Krankenakte.
»So lange heben Sie so was auf?« Ich nippte an meinem Kaffee. »Wir haben nicht mal mehr seine Personalakte gefunden.«
»Wir sind eine Forschungseinrichtung«, antwortete sie. »Patientenakten sind für uns Erfahrungsschätze, auf die man immer wieder zurückgreifen kann. Die Amerikaner untersuchen zurzeit Gewebeproben von Soldaten, die im Ersten Weltkrieg an der Spanischen Grippe gestorben sind.«
Mein Kaffee war alle, sie ließ mir neuen bringen.
»Nicht übermäßig viel zu tun, heute?«, fragte ich, um die Zeit zu überbrücken.
»Seien Sie froh«, erwiderte sie matt. »Wenn wir viel zu tun haben, dann sind immer so schrecklich viele Menschen unglücklich.«
Endlich kam die Schwester und legte Marianne einen über die Jahre verblassten gelben Schnellhefter hin. Sie schlug ihn auf, schob die Brille auf die Nase und las schnell und konzentriert.
»Okay.« Sie ließ die Brille wieder vor der Brust baumeln. »Was genau wollen Sie wissen?«
»Könnte es sein, dass Krahl Recht hatte? Dass Ihren Chef tatsächlich eine Schuld am Tod seines Sohnes trifft?«
»Schuld?«, fragte sie irritiert. »Sagten Sie Schuld?«
»Wenn ein Mensch stirbt, und jemand trägt die Verantwortung dafür, dann ist Schuld schon der passende Begriff, finden Sie nicht?«
Lange sah sie in ihren Tee. »Schuld und Verantwortung, das sind für uns zwei verschiedene Dinge«, sagte sie schließlich. »Erinnern Sie sich an den Tag, als Sie zum ersten Mal hier waren?«
Und wie, hätte ich fast gesagt.
»Erinnern Sie sich auch an die Frau, die aus dem Fenster gestürzt war und uns einen OP blockierte, als die Schwerverletzten von der Autobahn hereinkamen?«
Sie stellte ihren Becher ab und rieb sich mit beiden Händen die Augen. Dann sah sie auf.
»Diese Frau ist uns dann ein paar Stunden später gestorben.«
»Ich weiß. Hab’s später im Radio gehört.«
»Und ich«, sie legte eine Hand auf ihre Brust. »Ich, Marianne Schmitz, trage die Verantwortung dafür. Ich war damals Stationsärztin, wie heute auch. Ich habe die Entscheidungen getroffen. Aber bin ich deshalb schuldig?«
»Das verstehe ich
Weitere Kostenlose Bücher