Heidelberger Requiem
Vormittags verbrachte ich damit, meine Leute mit Anrufen zu belästigen, um mir immer wieder bestätigen zu lassen, dass es nichts Neues gab. Ständig hatte ich das Bedürfnis, nach Neuenheim hinauszufahren und mich davon zu überzeugen, dass dort alles in Ordnung war. Nebenbei versuchte ich mich an einer Geschenkliste für meine Töchter, aber auch nach einer Stunde war sie noch leer.
Sönnchen brachte mir nicht einmal etwas zum Unterschreiben. Irgendwann, kurz vor Mittag, erschien sie dann doch mit einem einzigen linierten Blatt in der Hand.
»Ich hab da mal eine kleine Liste gemacht.« Sie knallte es vor mich hin. »Hab mir ja gleich gedacht, dass Sie nicht dran denken.«
Ich nahm mir vor, ihr von nun an so lange jeden Morgen Blumen mitzubringen, bis sie wieder normal war.
Neben einigen aktuellen CDs hatte sie zwei Videos mit John Bon Jovi, Tipps zu den Modefarben der Saison sowie den Hinweis notiert, dass man im bald kommenden Herbst Pullover gut brauchen könne.
Es gelang mir gerade noch rechtzeitig, das Blatt verschwinden zu lassen, als meine Töchter lärmend hereinplatzten. Die letzten beiden Stunden seien ausgefallen, erklärten sie mir fröhlich, und nun wüssten sie nichts mit sich anzufangen. In diese langweilige Stadt zu gehen, hatten sie absolut keinen Bock, in der Kantine mit mir und anderen langweiligen Erwachsenen zusammen zu essen, fanden sie so was von uncool, und Hausaufgaben waren sowieso total ätzend.
»Und außerdem, über den Geburtstag haben wir in der alten Schule nie was aufgehabt!«
»Vielleicht ist das in der neuen Schule anders?«
»Das ist uns aber total egal«, fauchte die linke. »Wir machen keine Hausaufgaben. Basta.«
»Und wir wollten ja auch gar nicht in die neue. Wir wären lieber daheim geblieben!«, sekundierte die rechte mit blitzenden Augen. »Du hast uns hier hergeschleppt!«
»Wisst ihr was, Kinder«, sagte ich nach kurzem Überlegen. »Wir ziehen heute Abend um. Was haltet ihr davon?«
»Wie das denn?« Sie waren zu verblüfft von meinem Vorschlag, als dass sie sich hätten weiter empören können.
»Wir packen unsere Campingsachen ein und Zahnbürsten und schlafen auf Isomatten.«
Das fanden sie geil.
»Und morgen früh machen wir dann Bescherung in der neuen Wohnung.«
»Ganz ohne Möbel?«
»Ganz ohne Möbel.«
Das fanden sie megageil.
»Voll krass! Und wir gehen echt zu McDonald’s?«
»Mittags und abends«, seufzte ich.
Auf einmal hatten sie doch Lust, in die Stadt zu gehen.
21
Das Mittagessen ließ ich an diesem Tag ausfallen. Ich legte Sönnchen einen Zettel auf den verwaisten Schreibtisch, dass ich für eine Stunde in der Stadt sei. Innerhalb dieser Stunde arbeitete ich ihre Liste weitgehend ab. Die CDs zu finden, war kein Problem. In den Boutiquen hatten die Verkäuferinnen Mitleid mit mir und halfen, wo sie konnten. Jugendliche Kundinnen wurden als Models zweckentfremdet, manches führten sie selbst vor. Aber am Ende war ich dennoch nicht zufrieden. Ich wollte meinen Töchtern etwas schenken, was meine Idee gewesen war. Etwas von mir, nicht von meiner zickigen Sekretärin.
Mit der Suche nach diesem Etwas verbrachte ich eine weitere Stunde, zunehmend geplagt von schlechtem Gewissen, weil ich mich vor der Arbeit drückte, und aufsteigender Panik, weil mir partout nichts einfallen wollte. Am Ende entschied ich mich für zwei Plüschtiere, Koala-Bärchen, eindeutig ebenfalls Zwillinge, die sich eng umklammert aneinander festhielten und gegenseitig vor der Welt beschützten.
Während dieser zwei Stunden traf ich meine Töchter nicht weniger als dreimal auf der Heidelberger Einkaufsmeile, in der »Hauptstraße«. Angestrengt taten sie so, als würden sie sich nicht für den Inhalt meiner Tüten interessieren.
Nach dem Erwerb der Koalas fühlte ich mich besser und war wieder einmal davon überzeugt, dass wir uns mit der Zeit doch in Heidelberg einleben würden. Außerdem war mir eingefallen, dass inzwischen sogar die Stadtbahn nach Karlsruhe fuhr, sodass die Mädchen in Fällen akuten Heimwehs jederzeit problemlos einen Kurztrip an die Orte ihrer Kindheit machen konnten. Und am Ende hatte dann auch mich das Heimweh so gepackt, dass ich um ein Haar noch einmal zurückgegangen wäre, um ein zweites Koala-Pärchen für mich selbst zu kaufen. Aber ich widerstand.
Auf dem eiligen Rückweg stolperte ich vor der alten Universität fast über Georg Simon, der betrunken herumtorkelte und jeden umarmte, der nicht rasch genug zur Seite sprang. Ich
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