Heidelberger Requiem
der unbemerkt rein und wieder raus?«
»Ganz einfach, durch den Haupteingang. Er ist ja immer noch da angestellt«, erklärte mir Vangelis. »Mindestens vier Personen haben ihn gesehen. Keiner hat sich was dabei gedacht, dass er plötzlich wieder da war. Mit zweien hat er sogar gesprochen. Hat erzählt, er sei ein paar Tage krank gewesen und würde am Montag, also heute, wieder zur Arbeit kommen.«
»Und dann hat er auf eine Gelegenheit gewartet, in das Büro von der Frau Doktor zu kommen und ihr dieses Zeug in die Thermoskanne zu tun«, ergänzte Runkel dumpf.
»Was für Zeug?«
»Wissen wir noch nicht«, gestand Balke. »Irgendein höllisch schnell wirkendes Gift. Sie muss praktisch nach dem ersten Schluck tot gewesen sein.«
»Und jetzt?« Ich merkte, dass ich doch noch nicht die alte Form wiedererlangt hatte. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. »Was machen wir denn jetzt? Hat jemand eine Idee?«
»Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten«, murmelte Balke. »Entweder, er ist jetzt mit seiner Rache am Ende oder …«
»… er versucht, den Professor auch noch umzubringen«, beendete ich seinen Satz und zwang mich, die Augen wieder zu öffnen.
»Der Sie übrigens dringend sprechen möchte«, sagte Vangelis. »Er hat schon mehrfach angerufen.«
»Wo steckt er?«
»Bei seiner Frau. Und er zeigt mächtig Nerven.«
Ich starrte sie eine Weile an und versuchte zu überlegen.
»Lassen Sie uns hinfahren«, entschied ich schließlich. »Ich hab sowieso ein paar Dinge mit ihm zu bereden und will sein Gesicht sehen dabei.«
Balke war enttäuscht, dass er nicht mit durfte. Aber er war befangen. Ihn wollte ich lieber nicht dabeihaben bei dem Gespräch.
Natürlich war auch ich befangen. Wäre ich mein Chef gewesen, ich hätte mich umgehend von diesem Fall abziehen müssen. Nach der vergangenen Nacht war Volker Krahl kein Verdächtiger mehr für mich, sondern ein Feind. Ich wollte ihn haben und quälen, ihm wehtun, ihn weinen sehen. In mir loderte ein Höllenfeuer aus Hass, Rachsucht und maßloser Enttäuschung.
Aber ich war nicht mein Chef. Da war niemand, der mich hätte bremsen können.
Frau Grotheer bekam ich an diesem Tag nicht zu Gesicht. Der Hausherr selbst öffnete uns die Tür, nickte uns ernst zu und führte uns ins Wohnzimmer. Er trug eine dunkelblaue Strickjacke, eine schon leicht zerknitterte graue Hose und altmodische Hausschuhe. Wir setzten uns. Er war blasser als sonst, das rechte Augenlid zuckte unablässig. Der Tod der Geliebten hatte ihn sichtlich getroffen.
»Unglaublich«, war das erste Wort, das er herausbrachte. Immer wieder schüttelte er ungläubig den Kopf. »Einfach unglaublich, wozu ein Mensch fähig sein kann. Ausgerechnet Marianne. Ich nehme an, Sie haben sich inzwischen manches zusammengereimt?«
»Ich war in Ihrer Wohnung im Emmertsgrund«, sagte ich leise. »Dort habe ich übrigens auch den entscheidenden Hinweis entdeckt. Es war der Tee. Ihr Tee, auf den sie nicht verzichten konnte. Aber leider habe ich zu spät geschaltet. Viel zu spät. Eine halbe Stunde früher, und …«
Er nickte vor sich hin und sah auf seine Hände. »Niemand wird Ihnen einen Vorwurf machen«, sagte er matt.
»Doch«, erwiderte ich. »Ich.«
»Davon sind wir niemals frei.«
»Wie war es damals beim Tod von Krahls Sohn? Haben Sie sich damals Vorwürfe gemacht?«, fragte ich.
Verwundert sah er auf. »Was denken Sie denn?« Plötzlich wurde er laut: »Ja, was denken Sie denn? Dass wir Tiere sind? Dass uns der Tod eines Menschen unberührt lässt? Niemals! Niemals wird das so sein! Was denken Sie wohl, weshalb ich Medizin studiert habe, warum Marianne Medizin studiert hat?« Unvermittelt wurde er wieder leiser. »Entschuldigen Sie.« Er fuhr sich über die Stirn. »Es ist alles so … entsetzlich. Ich … ich bitte um Ihr Verständnis.«
»Es war wohl kein Zufall, dass Ihr Sohn ausgerechnet in die Wohnung neben der Ihren eingezogen ist?«
»Gewiss nicht. Er muss uns beobachtet haben. Vielleicht hat er einmal zufällig meinen Wagen gesehen. Ich weiß es nicht. Plötzlich war er eben da. Hat eines Abends Sturm geläutet, vor unserer Tür randaliert. Es war eine unvorstellbar peinliche Situation. Er hat es darauf angelegt, mir das Leben zur Hölle zu machen.«
»Und deshalb sind Sie dann nicht mehr dort aufgetaucht«, sagte ich.
»Ging es darum auch bei dem Streit mit Marianne Schmitz am Montag vor seinem Tod?«, fragte Vangelis.
Grotheer nickte gequält. »Plötzlich wollte er Geld.
Weitere Kostenlose Bücher