Heidelberger Requiem
eineinhalb Stunden. Und das Handy blieb still. Meine Nervosität begann unerträglich zu werden. Die Hände waren feucht, der Puls wollte sich nicht beruhigen, obwohl Sönnchens Kaffee längst nicht mehr wirkte. Ich arrangierte die Sachen im Regal um. Ein kleiner Keramik-Kerzenständer aus Spanien mit einer heruntergebrannten Christbaumkerze, eine angeknackste Zuckerdose aus Meißener Porzellan aus der Erbmasse von Veras Großtante, eine kunstvoll bemalte indische Teedose unbekannter Herkunft. Erinnerungen. So viele Erinnerungen. Vera hatte immer viel Tee getrunken. Kaffee hatte sie ja nicht vertragen. Tee. Ich hielt das Ding in der Hand und konnte es nicht wegstellen. Eine Teedose. Wann hatte ich zum letzten Mal eine Teedose in Händen gehalten?
Und plötzlich riss der Vorhang, und alles war auf einmal sonnenklar. Ich fuhr in meine Schuhe, fand den Autoschlüssel am Fußboden neben dem Camping-Kocher und hetzte davon, ohne meinen Töchtern auch nur einen Zettel zu hinterlassen, wohin ich unterwegs war.
23
Auf der rasenden Fahrt zur Klinik hätte ich ständig schreien und mich ohrfeigen können. Endlich erreichte ich Vangelis per Telefon und informierte sie brüllend im Telegrammstil. Sie war zu diesem Zeitpunkt kaum mehr als zweihundert Meter von der Klinik entfernt und versprach, sich zu beeilen.
Mit jaulenden Reifen bog ich auf den leeren, taghell beleuchteten Parkplatz ein, ließ den Peugeot irgendwo in der Nähe des Haupteingangs mit offener Tür und laufendem Motor stehen, kümmerte mich nicht um die empörten Rufe des Zivis am Empfang, wartete nicht auf den Fahrstuhl, sondern nahm die Treppe, immer drei Stufen auf einmal.
Als ich oben ankam, zeigte die Uhr in der Mitte des menschenleeren Gangs Viertel nach eins. Und als ich keuchend in Marianne Schmitz’ Büro stürmte, war sie bereits tot, wie ich auf den ersten Blick erkannte. Sie lag neben ihrem Schreibtisch in verkrümmter Haltung, so, als hätte sie in den Sekunden ihres Todes unerträgliche Schmerzen gehabt.
Nur Augenblicke nach mir kam Klara Vangelis. Da saß ich bereits am Boden, mit dem Rücken zur Wand neben dem Tisch, an dem ich mich noch vor wenigen Tagen mit der Toten neben mir über Schuld und Verantwortung unterhalten hatte, und war stumm und taub vor Schreck und Schmerz.
Sie stellte keine Fragen, sondern zückte ihr Handy, um das Richtige zu tun. Minuten später war eine Menge Leben um mich herum. In mir war keines mehr. In mir war der Tod. Dies war einer der wenigen Momente, in denen ich sterben wollte. Wenn meine Töchter nicht gewesen wären, wenn der Gedanke an sie mich nicht zurückgehalten hätte, ich weiß nicht, was noch geschehen wäre, in dieser verfluchten und nicht enden wollenden Nacht. Entfernt schnappte ich Worte auf wie »Gift« und »Tee«. Professionell freundliche Krankenschwestern versuchten, mit mir ins Gespräch zu kommen. Irgendwann gab mir eine mitfühlende Seele eine Spritze.
»Sie war seine Geliebte, nicht wahr?«, fragte Vangelis, als ich in einem Krankenhausbett wieder zu mir kam.
Ich brachte nur ein Nicken zustande.
»Krahl wollte ihm nicht die Frau wegnehmen, mit der er verheiratet war, sondern die, die er geliebt hat«, fuhr sie ohne Gnade fort.
Ich räusperte mich einige Male, bis ich glaubte, sprechen zu können. »Was ist mit meinen Mädchen?«
»Wir haben Sönnchen zu ihnen geschickt. Sie hat in der Schule angerufen und ihnen frei gegeben. Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden.«
»Diese Wohnung im Emmertsgrund draußen, das war ihr Liebesnest, was?«, hörte ich Balkes Stimme hinter mir. Er hatte sich an die Fensterbank gelehnt. Das Licht schmerzte in meinen Augen, als ich zu ihm hinsah.
»Hat jemand meinen Wagen abgeschlossen?«, murmelte ich blöde.
Er warf mir die Schlüssel auf die Bettdecke. »Hab mir auch erlaubt, ihn ein bisschen ordentlicher zu parken.«
Vangelis zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Unser Heiliger Franz. Wer hätte gedacht, dass der Mann ein Doppelleben führt.«
Ich brummte irgendetwas und schlief wieder ein.
Gegen Mittag war ich wieder weit genug bei Kräften, um aus der Klinik zu flüchten. Sie ließen mich einen Wisch unterschreiben, dass ich dies auf eigenes Risiko tat, erzählten mir mit ernsten Mienen etwas von Schockzustand. Aber ich konnte keine Sekunde länger liegen.
»Wie ist er reingekommen?«, lautete meine erste Frage. »Auch mitten in der Nacht sind doch überall Leute in so einer Klinik. Wie kommt
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