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Heidelberger Requiem

Heidelberger Requiem

Titel: Heidelberger Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Burger
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Trauer und den Schock über Mariannes Tod überwunden hatte.
    »Ich möchte kein Ersatz sein für irgendjemanden«, sagte sie mit fester Stimme, nachdem die Platte zu Ende war. »Alles will ich sein für Sie, aber das nicht.«
    Was hätte es für einen Sinn gehabt, ihr von Marianne zu erzählen?
    Grotheer hielt sich brav in seinem Haus versteckt, obwohl er in der Klinik dringend gebraucht wurde. So machte dort notgedrungen ein Oberarzt eine Blitzkarriere, um die ich ihn nicht beneidete. Ich lernte ihn kennen, als ich kurz in der Klinik vorbeischaute, weil plötzlich doch noch Fotos aufgetaucht waren, auf denen Krahl zu sehen war. Sie waren anlässlich einer Geburtstagsfeier im Juni aufgenommen worden, und offenbar hatte er nicht gleich bemerkt, dass er im Bild war. Die Kamera war nicht besonders gut gewesen, aber unsere Techniker würden herausholen, was herauszuholen war. Ein schlechtes Foto ist allemal besser als ein gutes Phantombild.
    Der frisch gebackene Stationschef wirkte erschöpft, hielt sich aber wacker. Wir sprachen ein paar Sätze miteinander, dann hetzte er weiter. Er war an einem entscheidenden Punkt seiner Berufslaufbahn angelangt. Entweder, er schaffte es und würde in Kürze Mariannes Stellung einnehmen, oder er durfte sich demnächst nach einem anderen Job umsehen. Ich fühlte mit ihm. Mir ging es genauso.
    Liebekind bestellte mich inzwischen täglich zum Rapport, die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer und tiefer. In Frau Steinbeißers Miene entdeckte ich einen neuen Zug: Mitleid. Sie sah mich bereits als gescheitert und war gespannt auf meinen Nachfolger. Die Medien veröffentlichten mit Freude unser digital überarbeitetes Foto von Krahl, verfolgten eifrig jeden unserer Schritte in der Hoffnung, uns niedermachen zu können, und übertrafen sich in Mutmaßungen.
    Und wir konnten doch nichts tun als warten.
    Ich begann zu glauben, dass das Vitamin A wirkte. Jeden Morgen machte ich Sehtests mit der Zeitung, und der Abstand, aus dem ich die Texte noch entziffern konnte, schien wirklich größer zu werden. Ich erhöhte die Dosis von eins auf zwei.
    Der Verkauf unseres Hauses war inzwischen amtlich, der Besitzwechsel der Wohnung in Heidelberg ins Grundbuch eingetragen. Eine Einbauküche wurde gekauft und verblüffenderweise schon zwei Tage später installiert.
    Der Umzug rückte näher.
    Krahl blieb verschwunden.
    Jeden Tag wurde er irgendwo entdeckt, brach Hektik aus, die nach wenigen Stunden wieder in sich zusammenfiel. Er war und blieb verschwunden. Ich arbeitete den Aktenberg ab, der sich inzwischen auf meinem Schreibtisch angesammelt hatte, und versuchte mich in seine Gedanken zu versetzen. Wo würde ich unterkriechen, wenn ich an seiner Stelle wäre? Verstecken kann man sich in der Einsamkeit oder in einer Menschenmenge. Dazwischen gibt es nichts. Ein allein stehendes Haus irgendwo im tiefen Odenwald, eine Gartenlaube am Rande von Mannheim, ein Bauwagen in einem vergessenen Steinbruch oder aber eine Studentenbude mitten in der Heidelberger Altstadt. Ich ertappte mich dabei, wie ich auf die Straße hinuntersah und versuchte, ihn in einem Passanten zu erkennen.
    Ich lernte meine neuen Nachbarn kennen. Im Erdgeschoss wohnte eine blasse fünfköpfige Familie. Der Mann war irgendwas an der Universität, die Frau mit ihren drei rabiaten Kindern im Alter zwischen anderthalb und fünf restlos überfordert. Wir versprachen, uns gegenseitig auszuhelfen, wenn Not am Mann war. Sie sagten mir, dass die laute Musik meiner Töchter sie nicht im Geringsten störte, da bei ihnen ohnehin ständig Lärm sei. Über mir wohnte die stille, zierliche Witwe des ehemaligen Geschäftsführers einer Firma für Feuerschutzanlagen, die sich darüber freute, dass die Wohnung unter ihr nicht mehr leer stand. Da sie, obwohl erst Ende fünfzig, ein wenig schwerhörig war, waren auch von hier keine Klagen zu erwarten.
    In dieser Zeit machte ich eine Entdeckung: Es gelang mir allmählich, meine Töchter zu unterscheiden. Sarah, die mit der kleinen Narbe an der Stirn, bewegte sich offener als Louise, ihre Stimme war ein wenig lauter, ihr gesamtes Auftreten selbstbewusster. Wenn sie ein Anliegen hatten, wenn es etwas durchzusetzen galt, dann war sie es, die das Gespräch eröffnete. Jeden Tag ging es ein wenig besser.
    Das Wetter schlug wieder um. Nachdem es eine Woche lang kühl und regnerisch gewesen war, wurde es plötzlich wieder warm.

24
    Am Donnerstag fuhr ich nach Dienstschluss in die Stadt und kaufte ein, was der Mensch

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