Heidelberger Requiem
Viel Geld. Hat gedroht, an die Öffentlichkeit zu gehen. Das wäre mein Ruin gewesen. Nicht der finanzielle, verstehen Sie mich richtig. Mein Ruin als, wenn ich so sagen darf, moralische Institution und als Wissenschaftler. Neid und Missgunst gibt es an jeder Universität. Nicht jeder gönnt dem anderen seine Erfolge. Es gibt Kollegen, die wären begeistert gewesen über eine solche Chance, mein Ansehen in der Öffentlichkeit zu demontieren. Nein, keine schöne Situation, weiß Gott.« Wieder sah er auf seine Hände, die reglos in seinem Schoß lagen. »Um ehrlich zu sein, als ich erfuhr, dass er tot ist …«
»Da waren Sie beruhigt?«, fragte ich tonlos und fühlte, wie meine Finger kalt wurden.
Er schloss die Augen. »So schrecklich es klingen mag – in gewissen Sinne, ja. Natürlich war es nicht so, dass ich gejubelt hätte. Aber es war schon eine deutliche Erleichterung. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können. Es ist vielleicht auch nicht notwendig, dass Sie es verstehen. Marianne war ziemlich aufgebracht deshalb.«
Oben hörte ich leise Schritte, eine Tür klappte. Dann war es wieder still. Ich fragte mich, ob seine Frau unser Gespräch belauschte.
Nach einigen schweigend verbrachten Sekunden richtete ich mich auf. »Herr Professor, Sie wollten mich sprechen.«
Er blickte mich von unten her an. »Wundert Sie das?«
»Sie haben Angst?«
»Muss ich das nicht?«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen«, antwortete ich ehrlich. »Meine Meinung ist, dass Sie nicht in Gefahr sind. Es würde seinem System widersprechen, wenn er nun auch noch Sie angreifen würde. Aber solange er frei herumläuft, kann alles passieren. Wir wissen nicht, was in seinem verwirrten Kopf vorgeht.«
»Möchten Sie hören, was ich glaube? Er ist krank. Ich vermute sogar, er hat nicht mehr lange zu leben. Nur so ist dieser plötzliche, zum Äußersten entschlossene Fanatismus zu erklären. Nach diesen entsetzlichen Prozessen, die mir so viele schlaflose Nächte bereitet haben, hat er all die Jahre stillgehalten. Und nun, aus heiterem Himmel, diese unvorstellbare Grausamkeit. Es muss etwas sehr Einschneidendes geschehen sein.«
Ich wechselte einen Blick mit Vangelis. Ich musste unbedingt Runkel fragen, ob er endlich Krahls ehemaligen Arzt aufgetrieben hatte.
»Sie sollten vorläufig dieses Haus nicht verlassen, Herr Professor. Hier sind Sie in Sicherheit. Ich werde die Wachen noch einmal verstärken, und Sie werden niemanden einlassen, den Sie nicht persönlich kennen. Völlig gleichgültig, mit welcher Begründung er an Ihrer Tür klingelt.«
»Der Laborbericht vom LKA.« Balke warf mir eine dünne Mappe auf den Schreibtisch. »Die DNA von den Haaren im Emmertsgrund stimmt mit der aus der Wohnung in der Semmelsgasse überein. Krahl ist definitiv unser Mann.«
Ich überflog den Bericht. »Damit ist er fällig. Ich beantrage den Haftbefehl.«
»Das mit dem Bein, das wird ihm das Genick brechen«, sagte Balke zufrieden. »Es hinken ja nicht so viele Männer.«
Eine halbe Stunde später hielt ich das ersehnte Dokument in Händen, und die Fahndungsmaschinerie der Polizei begann zu laufen. Bereits nach wenigen Minuten war Volker Krahl europaweit zur Fahndung ausgeschrieben. Ab achtzehn Uhr würde sein Bild in den Fernsehnachrichten der Regionalprogramme gezeigt werden, morgen früh würde es in jeder Tageszeitung erscheinen. Und endlich konnten wir zu unseren Bildern einen Namen nennen. Georg Simon hatte sich, nachdem er wieder halbwegs nüchtern war, als guter Beobachter erwiesen. Wir brauchten nur noch zu warten.
Wir warteten einen Tag, wir warteten zwei Tage, nichts geschah. Die Zwillinge aßen wieder mehr und weinten immer seltener. Frau Brenneisen stand kurz davor, mir das Du anzubieten, und Sönnchen hätte am liebsten meine Töchter adoptiert.
Am Dienstagabend traf ich die Frau mit der Perlenkette, diesmal wieder in der Wohnung ihrer Freundin. Sie hatte eine CD mitgebracht, eine fast dreißig Jahre alte ECM-Aufnahme mit John Taylor, Norma Winstone und Kenny Wheeler. Wir liebten uns zu der friedvollen, heiteren Musik. Hinterher war sie traurig.
»Sie waren mit den Gedanken nicht bei mir«, sagte Sie ohne Vorwurf. »Gibt es eine andere?«
Ich küsste sie auf die Nasenspitze.
»Lassen Sie mir Zeit. Ich brauche einfach Zeit.«
Sie lächelte unsicher. »Sie denken immer noch an sie?«
»Immerzu«, gestand ich und verschwieg, wen ich damit meinte. Ich war mir sicher, dass ich sie lieben würde, irgendwann, sobald ich die
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