Heidelberger Wut
schloss sofort wieder die Augen. Ein paar Minuten Siesta, das würde mir jetzt guttun.
Die Tür öffnete sich vorsichtig, der Kaffee duftete.
»Ich hab schon drei Mal nach Ihnen geguckt. Aber Sie haben so fest geschlafen, da hab ich Sie in Ruhe gelassen. Haben Sie etwa schon wieder nichts Rechtes gegessen?«
»Ich mache die VW-Diät. Und außerdem bin ich heute Morgen zu früh aufgestanden.«
Ich erzählte auch ihr von der Klassenfahrt meiner Töchter, während sie das kleine Stahltablett mit der Tasse vor mich hinstellte. Ich tat zwei Löffel Zucker hinein und rührte um.
»VW-Diät? Was ist das denn schon wieder?«
»Verdammt wenig essen. Es war meine eigene Idee.«
»Aber das ist doch keine Diät«, schimpfte sie, »das ist eine Hungerkur! Dass ein Mann in Ihrem Alter ein Bäuchlein entwickelt, ist doch völlig normal.«
»›Alter‹ ist genau das Wort, das ich jetzt eigentlich nicht hören wollte.«
»Sie werden nicht jünger, wenn Sie sich zu Tode hungern. Sie werden nur nicht mehr älter.«
»Also, was liegt an?«, fragte ich matt. »Ich seh’s an Ihrer Nasenspitze, Sie bringen Neuigkeiten.«
Sönnchen faltete eines ihrer kleinen gelben Zettelchen auseinander. »Dieser Seligmann, ich hatte doch gleich so ein Gefühl …«
Der Kaffee tat ungeheuer gut. Ich spürte, wie gierig mein Körper Koffein und Zucker aufsog.
»Vor ziemlich genau zehn Jahren, da hat es einen Fall gegeben. Er ist bis heute nicht aufgeklärt. Eine Schülerin ist vergewaltigt worden, ein ganz junges Ding noch. Und dieser Seligmann, der hat sie damals gefunden und ins Krankenhaus gefahren. Eine halbe Stunde später, und das arme Kind wäre tot gewesen, haben die Ärzte gesagt. Sie war arg schwer verletzt.«
»Der Täter wurde nicht gefasst, obwohl das Mädchen überlebt hat? Hat sie ihn denn nicht beschreiben können?«
»Es ist vielleicht sogar schlimmer, als wenn sie gestorben wäre«, erwiderte sie niedergeschlagen und faltetet ihr Zettelchen wieder zusammen. »Sie muss seither in einem Heim leben. Ihr Gehirn hat eine Zeit lang zu wenig Sauerstoff gekriegt. Seither ist sie … na ja … geistig behindert und spricht nicht mehr.«
Ich schenkte mir eine zweite Tasse Kaffee ein und bat um die ausführliche Version der Geschichte.
Das Opfer hieß Jule Ahrens, und Seligmann hatte das Mädchen damals mitten in der Nacht schwer verletzt, blutüberströmt und bewusstlos vor seinem Haus gefunden. Als wäre das allein nicht schlimm genug, war die Vergewaltigung ausgerechnet in der Nacht vor Jules sechzehntem Geburtstag geschehen. An Stelle einer aufregenden Zukunft in Freiheit, die alle Jugendlichen in diesem Alter so sehr herbeisehnen, hatte das neue Lebensjahr Jule Ahrens Gefangenschaft und Unglück gebracht. Das Mädchen war damals nur wenig älter gewesen als meine Töchter jetzt. Auf einmal war mir wieder übel.
Der Fundort sei nicht der Tatort gewesen, hörte ich meine Sekretärin sagen.
»Ach, Sönnchen. Es gibt so Tage, da wünsche ich mir, ich hätte was Anständiges gelernt und wäre nicht bei der Polizei gelandet.«
»Sie müssten halt einfach ein bisschen mehr essen, Herr Kriminalrat«, meinte sie mitleidig. »Hunger drückt einem auf die Seele. Und mal ehrlich, was hat man denn davon, wenn man schlank ist und dabei ständig schlechte Laune hat?«
»Es ist so leicht, zwei Kilo zuzunehmen. Und es ist so verdammt schwer, sie wieder loszuwerden«, seufzte ich.
»Was halten Sie von der Geschichte mit dem vergewaltigten Mädchen?«
»Was soll ich davon halten?« Ich leerte die zweite Tasse in einem Zug. Langsam kam ich zu mir. »Dass einer eine verletzte Person ins Krankenhaus fährt, obwohl er sich dabei vermutlich die Polster seines Wagens ruiniert, spricht nicht unbedingt gegen ihn.«
Sönnchen ging, Klara Vangelis und Sven Balke kamen.
»Ich bin mir noch nicht schlüssig, ob es eine gute oder eine schlechte Nachricht ist«, sagte Vangelis ernst. »Bonnie and Clyde sind hier.«
»Was? Wo?« Plötzlich war ich hellwach. »Sind die verrückt?«
»Auf dem Campingplatz bei Neckarhausen. Der Platzwart ist zum Glück ein heller Kopf und liest in der Zeitung nicht nur den Sportteil. Er hat uns gleich angerufen. Vor zwei Stunden haben sie eingecheckt. Irrtum ausgeschlossen.«
»Wirklich verdammt leichtsinnig«, meinte Balke sichtlich verwirrt. »Dabei waren sie doch sonst so clever.«
»Sie werden erschöpft sein. Seit drei Tagen sind sie unterwegs. Und außerdem halten sie sich inzwischen vermutlich für
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