Heidelberger Wut
haben diesen Satz vor kurzem einmal zu mir gesagt, also darf ich ihn wohl auch Ihnen gegenüber gebrauchen: Sie sind ein Arschloch, Herr Seligmann!«
Er war blass und seit Tagen nicht rasiert. Seinen lächerlichen Selbstmordversuch schien er unbeschadet überstanden zu haben, denn schon am Vormittag hatte man ihn aus der Klinik wieder in seine Zelle in der Heidelberger JVA am »Unteren Faulen Pelz« zurückgebracht, der vermutlich merkwürdigsten Adresse der Welt.
Ich setzte mich auf den einzigen Stuhl, den es in der Zelle gab, einen klobigen Holzstuhl, der vermutlich auch mildere Tobsuchtsanfälle überlebte. Seligmann lag mit halb geschlossenen Augen auf dem Bett.
»Was zur Hölle veranstalten Sie hier? Was soll der ganze Blödsinn? Warum behaupten Sie, Sie hätten das Mädchen vergewaltigt?«
Er schwieg und wirkte fast so teilnahmslos wie Jule vor kaum mehr als einer Stunde. Hergefahren war ich wie ein Verrückter, von dem Pflegeheim am Hang über Wald-Michelbach, wo Jule Ahrens ihr Leben verdämmerte, bis zu dem Ort, wo dieser Knallkopf seine Tage vertrödelte. Dieser Narr, der vor zehn Jahren ihr Geliebter gewesen sein musste und es auf irgendeine merkwürdige Weise immer noch war.
»Jetzt erzählen Sie endlich, was mit Ihnen los ist, welcher verdammte Teufel Sie reitet, und dann will ich sehen, wie ich Ihnen helfen kann. Obwohl ich viel mehr Lust habe, Sie auf der Stelle zu erwürgen. Oder Ihnen wenigstens ein paar saftige Maulschellen zu verpassen. Und machen Sie sich keine Hoffnungen, hier gibt es keine Zeugen, kein Mensch hört uns, und ich habe eine wirklich gottverdammte, hundsgemeine Saulaune!«
»Mir helfen?«, seufzte Seligmann matt. Sein Atem ging flach und erzeugte dennoch diese albernen Pfeif- und Fiepgeräusche. »Sie hätten mir geholfen, wenn Sie mich letzte Nacht hätten sterben lassen.« Er schloss die Augen. Er lachte rau. Stoßweise. Zu Tode verzweifelt.
Ich sprang auf und begann, in seiner engen, miefigen Zelle hin- und herzurennen. Seligmann richtete sich ächzend auf. Hockte dann zusammengesunken auf seiner Pritsche. Wie ein Knirps, der nun wohl oder übel das Donnerwetter seines Lebens über sich ergehen lassen muss.
»Ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, Sie täten mir leid. Auch wenn Sie dem Mädchen nichts getan haben. Oder zumindest nicht das, was Sie behaupten. Sie sind wirklich der größte Idiot, der mir jemals in die Quere gekommen ist!«
Geräuschvoll riss ich den Stuhl wieder heran, knallte ihn vor Seligmann hin, setzte mich, packte sein Kinn und zwang ihn, mir ins Gesicht zu sehen.
»Und jetzt will ich die Wahrheit hören, verdammt noch mal! Und diesmal die richtige Wahrheit, nicht wieder irgendein Geschwafel. Keine Märchen, haben wir uns verstanden?«
»Die Wahrheit?«, murmelte er. »Was ist das?«
Ich ließ sein Kinn nicht los. Ich schüttelte ihn. Es musste ihm wehtun, aber er zuckte nicht. »Herr Seligmann«, bellte ich ihn an, »ich bin nicht hier, um philosophische Streitgespräche mit Ihnen zu führen. Was ist in jener Nacht passiert? Wie ist es dazu gekommen? Und was war das zwischen Ihnen und Jule?«
Endlich ließ ich sein Kinn los. Wartete. Sein Kopf sank auf die Brust. Ich wartete. Durch die dicke Zellentür hörte ich draußen Schritte knallen, klirrende Schlüssel. Eiserne Türen donnerten ins Schloss. Irgendwo schrillte endlos ein Telefon. Grobe Männerstimmen riefen hin und her. Ich wartete immer noch.
»Sie machen sich keine Vorstellung, wie das ist«, begann dieses jämmerliche Häufchen Mensch vor mir endlich zu sprechen. Ich weiß nicht, nach wie vielen Minuten, aber eines weiß ich: es war ganz kurz bevor ich wirklich begonnen hätte, ihn rechts und links zu ohrfeigen.
»Wie was ist?«, fuhr ich ihn an. Ich war in genau der Stimmung, in der Verhörbeamte, denen die unabdingbare Disziplin fehlt, ihre Gesprächspartner verdreschen. »Wovon habe ich Ihrer Meinung nach keine Vorstellung? Vielleicht bin ich ja gar nicht so weltfremd, wie Sie vermuten?«
»Wenn man unglücklich liebt«, murmelte er mit hartnäckig gesenktem Blick.
»Sie haben sie geliebt? Jule Ahrens? Ihre Schülerin?«
Sein verfluchtes, klägliches Nicken war so verzagt, verlegen, schuldbewusst. Es juckte mich immer noch in allen zehn Fingern.
»Sehen Sie mich an, benehmen Sie sich ausnahmsweise mal für zehn Minuten wie ein Mann und reden Sie endlich!«
Mein Ton schien genau der zu sein, den Seligmann jetzt brauchte. Endlich wagte er aufzusehen, in mein Gesicht, in
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