Heidelberger Wut
der längste Tag des Jahres, genau das Richtige für ein paar zärtliche Stunden im Freien. Und an einem bestimmten Punkt musste diese Idylle in Grauen umgeschlagen sein. Die ruhige, friedvolle, vielleicht am Ende sogar erotische Stimmung hatte der Gewalt weichen müssen.
Der Ruß – woher mochte der Ruß stammen? Hatten sie zusammen gegrillt? Warum nicht?
Dann wieder all diese widerlichen Bilder, die anzufertigen der Job eines Gerichtsmediziners ist. Jeden Kratzer, jede Schramme hatte er mit der Unbarmherzigkeit eines Buchhalters fotografiert, vermessen, beschrieben. Der Täter musste plötzlich völlig von Sinnen gewesen sein. Unzählige Spuren deuteten auf verzweifelte Gegenwehr des Opfers hin, andere Verletzungen hatte er ihr definitiv erst beigebracht, als sie längst das Bewusstsein verloren hatte.
Seligmann neigte zu spontanen Aggressionsschüben, das hatte ich von mehreren Zeugen gehört. Zählte er zu den Männern, die erst richtig in Erregung geraten, wenn sie auf Widerstand stoßen? Die dieses Machtgefühl genießen, den Triumph, ihr Opfer niedergezwungen, gedemütigt, beschmutzt zu haben? Plötzlich war ich wieder davon überzeugt, dass er der Täter war. Für wenige Minuten Unbeherrschtheit würde er nun mit dem Rest seines Lebens büßen. Aber nein, hier ging es nicht nur um wenige Minuten. Die Tat, deren Dokumentation vor mir lag, hatte lange gedauert. Eine Viertelstunde, eine halbe. Nein, da war kein Mitgefühl. Nur Widerwille und Ekel. Schon wieder wurde mir übel. Und, ich gebe es zu, für einen winzigen Moment fand ich es schade, dass Seligmanns Selbstmordversuch misslungen war.
Bei der Vorstellung, Jule wäre mein Kind, stieg wieder diese kalte Wut in mir auf. Wie viel schlimmer musste es im wirklichen Vater aussehen? In der Mutter erst? Es kam ein Punkt, den ich noch niemals erlebt hatte in meinem nun schon recht langen Berufsleben: Ich musste den Ordner zuklappen. Ich konnte nicht mehr.
Ich wurde das Bild dieses hübschen, lebensfrohen Mädchens nicht mehr los, das sich auf seinen Geburtstag freute, den sechzehnten, der allen, die ihn noch vor sich haben, als das Tor zur goldenen Freiheit erscheint. Endlich darf man sich legal in einer Disco aufhalten, ohne die ewige Sorge, erwischt zu werden, an all den wunderbaren Orten sein, wo das Leben ist.
Jule Ahrens würde niemals herausfinden, dass sich das Leben auch nach diesem magischen Tag nicht sehr viel anders anfühlt als zuvor.
Um zehn war Pressekonferenz. Minuten vorher betrat ich das Büro meines Chefs. Er hatte gute Laune, das sah ich auf den ersten Blick. Viel zu besprechen hatten wir nicht. Ich referierte die Faktenlage, von Seligmanns Geständnis wusste er natürlich schon, ich verschwieg auch nicht meine Zweifel an seiner Geschichte, und wir stimmten uns darüber ab, welche Informationen wir als Täterwissen nicht preisgeben würden. Dann gingen wir zusammen hinüber in unser großes Sitzungszimmer.
Der Andrang war wie erwartet. Der Blick mancher Journalisten ließ mich an diese Raubvögel denken, die heutzutage auf den Leitplanken der Autobahnen hocken und geduldig warten, bis irgendein armes Wesen das Pech hat, vor ihren Augen überfahren zu werden. Natürlich war auch Möricke da, unser spezieller Freund, der sich in letzter Zeit auffallend still verhalten hatte, nachdem die Sache mit seiner Alkoholfahrt und anschließenden Zwangsausnüchterung die Runde gemacht hatte. Er saß in der letzten Reihe und wirkte unzufrieden.
Wir nahmen unsere Plätze ein, und ich begrüßte die Leitende Oberstaatsanwältin, Frau Doktor Steinbeißer, die mich ebenso wenig leiden konnte wie ich sie. Natürlich wollte auch sie sich diese Erfolgsgeschichte nicht entgehen lassen. Auf ihrer rechten Wange klebte ein Pflaster, und mein erster Gedanke war, sie hat sich beim Rasieren geschnitten. Aber das konnte natürlich nicht sein. Vielleicht hatte sie eine rabiate Katze? Ein Tropfen Blut war durchgesickert und eingetrocknet.
Mit einem Mal wusste ich, was falsch war.
Ich beugte mich zu Liebekind hinüber. »Wir müssen das hier abbrechen«, sagte ich leise. »Jetzt bin ich mir sicher, Seligmann ist unschuldig.«
Natürlich war er äußerst verwundert. Er wechselte einige Worte mit der Staatsanwältin. Auch sie hob die Brauen, durchlöcherte mich mit missbilligenden Blicken. Da sich aber am Ende niemand blamieren wollte, erhob sich Liebekind schließlich und erklärte der verdutzten Versammlung, dass es wegen neuer Erkenntnisse heute keine
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