Heidelberger Wut
Zigarette. Blies ihn an mir vorbei. Sah ihm nach, als könnte er darin eine Erklärung lesen für das, was er getan hatte.
»Viele Mädchen fallen in den Noten erst mal ab, wenn sie sich verliebt haben. Jule war da anders, wie in so vielem. Ich hatte das Gefühl, das, was sie für mich empfand, hat sie auf mein Fach übertragen, die Mathematik. Von Arbeit zu Arbeit wurde sie besser. Im Unterricht war sie meistens still. Und ich habe sie natürlich so selten wie möglich drangenommen. Schriftlich stand sie bald auf einer glatten Eins. Und dann …«
Jetzt sah er wieder weg. Rauchte fahrig. Ich wartete. Ganz in der Nähe krachte eine Zellentür ins Schloss. Wir zuckten beide zusammen. Ein Fernseher plärrte irgendwo. Jemand begann, lauthals zu fluchen. Beruhigte sich erst nach Minuten.
»Dann kamen diese Träume.«
»Träume?«
»Herrgott!«, fuhr er mich in plötzlicher Wut an. »Träumen Sie nie von Frauen?«
Ich verkniff mir den Satz, der mir auf der Zunge lag: »Nicht von Kindern.« Es wäre mit Sicherheit das Falscheste gewesen, was ich jetzt hätte sagen können.
»Irgendwann muss es ja dann mal zur Sache gegangen sein.«
»Zur Sache?«, fragte er irritiert. »Zur Sache?« Dann verstand er.
Die nächste Zigarette.
»Im März, da ist es passiert. Vorher war nichts, gar nichts. Außer natürlich, dass wir beide wussten, da gibt es etwas zwischen uns. Irgendeine Kraft, irgendwas, was einfach nicht aufhören will.«
»Haben Sie mit ihr darüber gesprochen?«
»Gesprochen?« Er starrte mich an wie einen Verrückten. »Natürlich nicht!«
»Sie haben nie versucht, sie zu treffen?«
»Nie.«
»Jule hat Ihnen keine duftenden Briefchen geschickt mit Herzchen drauf?«
»Nein! Nein!« Wütendes Kopfschütteln. »Wir wussten doch beide, es geht nicht. Es darf nicht sein.« Wieder schwieg er lange. »Ja, ich hätte darum bitten sollen, die Klasse zu tauschen. Es wäre bestimmt irgendwie gegangen. Man hätte eine Lösung gefunden. Wenn ich nur gewollt hätte. Damals waren wir noch nicht so knapp mit Personal, wie sie es heute sind.«
Er sah mir wieder in die Augen.
»Das wäre meine Chance gewesen. Aber ich habe sie verstreichen lassen. Fragen Sie nicht, warum. Manche Dinge hat man eben nicht in der Hand. Manches ist Schicksal. Oder nennen Sie es, wie Sie wollen.«
»Ich nenne es eine verdammte, billige Ausrede«, erwiderte ich scharf. Flüche taten mir im Augenblick gut. Sie halfen mir, meine Hände bei mir zu halten. »Irgendwie müssen Sie dann ja wohl zusammengekommen sein.«
»Natürlich«, erklärte er seiner Zigarette und betrachtete sie eine Weile, als müsste er sie retten. »Wenn Sie das Wort Schicksal nicht mögen, dann nennen Sie es Zufall.«
»Bleiben wir bei den Tatsachen.«
»März. Frühling, die ersten warmen Tage. Ich musste in der Stadt einiges besorgen. Kugelschreiberminen, Papier, irgendwas. Und dann …« Wieder dieser Bettelblick, für den ich ihn so hasste. »Wir sind uns einfach in die Arme gelaufen. An der Ecke bei der Heilig-Geist-Kirche. Mitten in einem Pulk amerikanischer Touristen. Verstehen Sie, an diesem Tag waren tausende Menschen in der Stadt, zehntausend. Und ich biege um irgendeine Ecke, passe nicht richtig auf und …«
»Halten Jule in den Armen.«
»Sie glauben mir nicht? Nicht wahr, Sie glauben mir nicht?«
»Würden Sie es denn glauben an meiner Stelle?«
»Aber es war so. Und seit damals glaube ich an Schicksal. Verstehen Sie, ich bin Mathematiker, Rationalist mit Leib und Seele. So etwas geschieht nicht. Es ist gegen jede Wahrscheinlichkeit. Eins zu zehntausend, dass Sie in die Nähe eines Bekannten geraten, wenn er zur selben Zeit in der Stadt ist wie Sie. Eins zu hunderttausend, dass Sie ihn bemerken. Eins zu einer Million, dass Sie ihn praktisch über den Haufen rennen, so wie ich Jule.«
Er sah mich an, als wäre ihm eine Erleuchtung gekommen.
»Homo Faber? Kennen Sie das? Max Frisch?«
»Natürlich.«
»Er stürzt mit einem Flugzeug ab, erlebt tausend Dinge, und alles führt am Ende nur dazu, dass er seine Tochter trifft, von der er noch nicht einmal wusste, dass es sie gab, und sich in sie verliebt. Als würde sein Leben sich auf einmal auf Schienen bewegen. Genau so etwas ist mir zugestoßen.«
Sein Päckchen Roth-Händle war leer.
»Soll ich Ihnen neue besorgen?«, fragte ich.
Er nickte zerstreut.
»Einen Kaffee dazu? Oder ein Bier?«
»Bier?«, fragte er in Gedanken. »Hier gibt es Bier?«
»Wenn ich es bestelle, vermutlich
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