Heidelberger Wut
unverwandt an, mit dieser sanften Verwunderung, und erwartete nichts.
Dann, endlich, tat ich das, wozu ich hergekommen war. Ich zog das Foto aus der Brusttasche meines Jacketts, legte es langsam vor sie hin, als könnte eine schnelle Bewegung sie erschrecken. Sönnchen hatte es mir im Lauf des Nachmittags aus dem Archiv des Kurpfalz-Kuriers besorgt. Es war dasselbe, das Möricke letzte Woche für seinen Artikel benutzt hatte.
Jule bemerkte es nicht einmal. Ich zog die Hand zurück und wartete. Irgendwo in der Ferne summte eine Maschine. Manchmal streichelte ein leichter Sommerwind mein Gesicht, dann bewegte sich Jules glattes Haar. Endlich, kaum merklich, senkte sie den Blick. Ging vielleicht ihre Uhr einfach anders als unsere, langsamer? Sie bemerkte das Foto, das seit ich weiß nicht wie vielen Minuten vor ihr lag. Ihr Blick veränderte sich. Und dann geschah das, was ich am allerwenigsten erwartet hatte: Sie begann zu lächeln, hob mit einer überraschend flinken Bewegung die Hand und fuhr mit einer zärtlichen Bewegung über das Bild, das Seligmanns Gesicht zeigte. So, wie er vor zehn Jahren ausgesehen hatte.
Jetzt war ich überzeugt – nie im Leben war Xaver Seligmann der Kerl, der diese Frau vergewaltigt und um ein Haar getötet hatte.
Die Pflegerin musste uns aus der Ferne beobachtet haben, denn plötzlich stand sie wieder da und strahlte mich an. »Sie wollen uns schon verlassen?«
»Ich weiß jetzt, was ich wissen wollte«, sagte ich und steckte das Bild ein. Jules Blick wurde trüb. Da zog ich es wieder heraus und schenkte es ihr. Es gibt eine Zeit im Leben von Säuglingen, da lächeln sie manchmal, ohne zu ahnen, dass sie ihren Eltern damit fast das Herz brechen. Ohne zu wissen, was Lächeln überhaupt bedeutet. Heute sah ich ein solches Lächeln wieder – in Jules Augen.
»Ah, da war er aber noch ein gutes Stück jünger!«, lachte die Pflegerin, als sie das Foto bemerkte.
Ich setzte mich wieder und starrte sie an.
»Sie kennen diesen Mann?«
»Aber klar doch«, erwiderte sie munter. »Kennen wäre natürlich zu viel gesagt. Er will uns ja nicht verraten, wie er heißt. Aber er bezahlt Jules Heimplatz. Obwohl er anscheinend gar nicht mit ihr verwandt ist, trägt er die ganzen Kosten. Und stellen Sie sich vor, immer in bar! Außerdem kommt er sie regelmäßig besuchen, jeden Montag und Donnerstag, sommers wie winters. Sein Julchen besuchen. So nennt er sie, sein Julchen.«
»Er besucht sie?«
»Ihre Eltern kommen ja schon lange nicht mehr. Die Mutter alle Jubeljahre mal an ihrem Geburtstag, den Vater habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Aber der Mann da, der kommt so regelmäßig wie die Uhr. Nur wenn er mal Urlaub hat, dann sieht man ihn ein, zwei Wochen nicht. Und dann ist unser Julchen immer ziemlich traurig. Jetzt zum Beispiel haben wir ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Hoffentlich lässt er sich bald mal wieder blicken. Sie ist so froh, wenn er bei ihr ist.«
Warum machte Seligmann ein Geheimnis daraus, dass er diese Frau regelmäßig besuchte? Warum durfte niemand wissen, dass er über die Hälfte seines Einkommens für sie ausgab? Was, um alles in der Welt, war schlecht daran? Warum behauptete dieser Narr stattdessen erst, er habe einen Bankraub begangen, und dann, er habe Jule vergewaltigt?
Es gab nur eine logische Erklärung: Er musste verrückt sein.
Die Pflegerin bemerkte nicht, dass ich kaum noch zuhörte.
»Sie kennt ja keinen Kalender, aber sie weiß trotzdem ganz genau Tag und Uhrzeit, wann er kommt. Meistens, wenn das Wetter danach ist, gehen sie zusammen spazieren. Der Mann da auf dem Foto ist der einzige Mensch, der sie an der Hand nehmen darf. Nicht mal ihre Mutter darf das. Sonst sagt er immer Bescheid, wenn er eine Weile nicht kommen kann. Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein? Kennen Sie ihn? Natürlich kennen Sie ihn, woher hätten Sie sonst das Foto. Sagen Sie mir, was ist passiert?«
»Sie wissen nicht mal seinen Namen und lassen ihn trotzdem zu ihr?«
Sie hob die gut gepolsterten Schultern. »Klar haben wir uns anfangs gewundert. Aber Julchen tut es gut, und auf der anderen Seite schadet es ja niemandem, dass er sie besucht. Ist es da nicht egal, wie er heißt?«
Jule war noch immer in die Betrachtung des Fotos versunken. Sie sah nicht auf, als wir gingen.
»Seit er nicht mehr kommt, ist sie sehr unruhig. Hoffentlich lässt er sich wirklich bald mal wieder blicken!«
Zum Abschied drückte die Pflegerin sehr fest meine Hand.
»Sie
Weitere Kostenlose Bücher