Heidelberger Wut
die Augen seines Peinigers. Sein Blick war noch müder, noch sehr viel müder als am Tag zuvor. Dieser Mann war nicht am Ende, er war längst darüber hinaus. Am Ende war er letzte Nacht gewesen, als er seine gottverfluchten Tabletten in sich hineinwürgte.
»Es war so.« Seine Stimme klang jetzt wieder etwas fester. Er räusperte sich, blinzelte, hielt aber meinem Blick stand. »Sie hat mir gefallen, natürlich. Es gibt eine Menge hübsche Mädchen in diesen Klassen. Mädchen, die einem schöne Augen machen, ihre frisch entdeckten Mittel am erstbesten Mann ausprobieren, der ihnen über den Weg läuft. Und das ist ja leider nicht selten ein Lehrer. Da kann Ihnen jeder Kollege Geschichten erzählen. Sonst kennen sie ja meistens nur Jungs in ihrem Alter, und die finden sie natürlich nicht so aufregend. Aber normalerweise … Ich war da immer völlig immun. Völlig immun, ja. Man muss das sein in diesem Beruf. Ich bin kein …« Seine Lider flatterten. Aber er hielt den Blick oben. Sah mir gerade in die Augen, hustete wieder. »Bitte glauben Sie mir, ich bin kein Kinderschänder. Bitte glauben Sie mir wenigstens das.«
»Ob ich Ihnen glaube, werde ich Ihnen sagen, wenn ich die ganze Geschichte gehört habe«, knurrte ich.
Sein Blick irrte ab. Inzwischen klang seine Stimme fast wieder normal. Er sprach nur immer noch sehr langsam, als wäre jedes Wort gefährlich. Jeder Satz eine mögliche Falle.
»Jule … Jule war so anders. Keines von diesen frivolen Flittchen mit ihren bauchfreien Tops, geschminkten Mündchen und Kulleraugen. Sie war so ernst. Ganz anders eben.«
Er sah jetzt etwas, was nur er allein sehen konnte. Etwas, das weit in seiner Vergangenheit zurücklag. Kein Muskel in seinem faltigen Gesicht fand Ruhe. Fast meinte ich, die Zähne knirschen zu hören. Mit fahrigen Bewegungen tastete er nach den Zigaretten, die neben ihm auf der rauen, braungrauen Anstaltsdecke lagen. Endlich fand er sie. Ich reichte ihm eine Schachtel Streichhölzer, die seit Ewigkeiten in meiner Jacketttasche lag. Er zündete sich mit bebender Hand eine Zigarette an. Meine eigenen Hände waren feucht vor Anspannung, Zorn und Empörung. Aber ich zwang mich zu schweigen. Jetzt hatte es keinen Zweck mehr, ihn zu drängen.
Jetzt, endlich, war er so weit.
Er wollte reden.
»Wie hat es angefangen?«, fragte er sich selbst, schnippte die Asche irgendwohin. »Ich habe so viel darüber nachgedacht. Aber ich komme nicht dahinter. Irgendwie hat es überhaupt nicht angefangen, das ist das Merkwürdige. Es war einfach da. Ich hatte die 9 c am Helmholtz frisch übernommen, es war Spätsommer. Erst sollte ich die Vertretung nur für zwei Wochen machen, dann hieß es vier, und schließlich ist ein ganzes Schuljahr daraus geworden. Am Anfang hat man immer ziemliche Mühe mit den Namen. Aber Jules hat sich mir sofort eingeprägt, in der ersten Sekunde. Ich weiß nicht, warum. Und vielleicht in der zweiten, vielleicht in der dritten Stunde, da war es auf einmal da. Ein Blick. Eine halbe Sekunde zu lang, und – da war es passiert.«
Gierig saugte er an seiner Zigarette, drückte sie im Blechaschenbecher auf dem Tisch aus, entzündete gleich die nächste. Seine Hände waren ein wenig ruhiger geworden.
»Sie war fünfzehn«, murmelte er. »Ein Wahnsinn. Ich, ein alter Mann für sie, dreißig Jahre älter, und sie, ein Kind. Ein Wahnsinn.«
»Und dann?«, fragte ich, als es nicht mehr weiterging. »Sind Sie dann gleich ins Bett mit ihr? Das war es doch, was Sie wollten.«
»Dann?«, fragte er mit abwesendem Blick zurück. Den zweiten Teil meiner Frage schien er überhört zu haben. »Nichts. Wochen, Monate – nichts. Nur immer wieder diese Blicke, dieses Wissen, dass da etwas ist, was nicht sein darf. Und dieses … dieses stille Einverständnis. Ja, Einverständnis ist vielleicht das richtige Wort.« Auf einmal sah Seligmann mir direkt in die Augen. »Ich weiß, was ist, sagten ihre Blicke. Und du weißt es auch. Wir sind verloren, sagten diese Blicke. Und Sie haben verdammt Recht, es stimmt, ich bin ein Arschloch. Ein Riesenarschloch sogar. Ich hätte die Klasse sofort abgeben müssen. Mich versetzen lassen. Mir einen anderen Beruf suchen. Habe ich aber nicht. Nichts von dem habe ich getan. Ich dachte, irgendwie geht es schon. Herrgott, ich war seit kurzem verheiratet! Ich war doch kein Teenager mehr, der sich mir nichts dir nichts in irgendein Mädchen verguckt! Man hat sich doch unter Kontrolle!«
Nachdenklich saugte er den Rauch aus seiner
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